Kulturkampf | Die neuen Twitter-Bürger

Seit der Französischen Revolution ist „links“ eine Politik, die sich an den Interessen der arbeitenden Klasse orientiert und „rechts“ eine, die die Interessen der Herrschenden betreibt. Egal wie kritisch man sie vielleicht sieht: linke Politik hat eine entscheidende Rolle gespielt, die Gesellschaft gerechter zu machen. Sie hat vor allem in den letzten Jahrzehnten wesentlich dazu beigetragen, Klassenunterschiede zu verringern und Chancengleichheit zu erhöhen, was eine wichtige Voraussetzung für die Stabilität einer Gesellschaft darstellt. In der Linken haben sich immer progressive und bürgerliche Kräfte aus unterschiedlichen Milieus vereint.

Doch die Zeiten ändern sich. Die Linken sind heute überwiegend akademisch. Sie gehören einer Klasse an, die um kulturelle Werte wie Kreativität und Authentizität kreist, so Soziologe Andreas Reckwitz in „Gesellschaft der Singularitäten“. In dieser neuen, progressiven Bürgerklasse konnte sich in den letzten Jahren besonders stark postmoderne Theorien ausbreiten, die ein neues, auf Sprache und Selbstbestimmtheit beruhendes Selbstverständnis geschaffen haben und mit Erfordernissen der neuen digitalisierten flexiblen Welt gut kompatibel sind. Die viel kritisierte Identitätspolitik ist eine direkte Folge aus dieser Verankerung akademischer Theorien in der neuen Bürgerklasse.

Problemfall Bürgertum

Viele haben schon darüber geschrieben: Dieses Selbstverständnis – die neue Macht einer foucaultgeschulten Klasse – entwickelt sich zu einem Problemfall für den freien Diskurs. Es heißt, die neue Bürgerklasse habe es geschafft, Kritik an sich nahezu auszuschalten und sich gegen Kritik zu immunisieren. Erreicht hat sie es vor allem durch die Anbindung an den alten linken Gerechtigkeitsmythos, den sie neu definiert: als Selbstbestimmung für alle und als Repräsentationsmöglichkeit jeder einzelnen Gruppe. Wer eine ihrer Positionen in Frage stellt, argumentiert daher – so wird vermittelt – stets gegen eine gerechte Gesellschaft.

Die moralischen Ansprüche eines von Individualismus getragenen Bürgertums sind hoch, sind längst ein Distinktionsmerkmal. Waren es im „alten“ konservativen Bürgertum Besitz und Familienhintergrund, mit dem man sich abheben konnte, ist es jetzt die moralische, weltmännische, offensiv-tolerante Haltung, die an Bedeutung gewinnt und für einige inzwischen ein Statussymbol darstellt. Der Verlauf aktueller Diskurse – neben Corona, Migration, Klima vor allem „Gender“ – verdeutlicht, wie eine kulturelle Dynamik von Zusammengehörigkeit zu festgefahrenen Positionen führt, die nach kurzer Zeit unanfechtbar werden. Die immer lauter werdende Kritik daran – leider oft nur noch von den Konservativen oder Rechten – wird als Bestätigung verstanden, dass man die Kritik als Ausdruck „rechter Tendenzen“ rigoros zurückweisen muss.

Twitter als Identitätserfahrung

Wollen wir die zunehmende Homogenisierung von Meinung innerhalb des progressiven Bürgertums besser verstehen, ist so ein Blick auf Social Media besonders hilfreich: alle gesellschaftlichen Prozesse laufen hier schneller und deutlicher ab, sie finden hier zusammen und strahlen von dort aus wieder ins „Real Life“. Twitter ist hierbei wie für das neue Bürgertum gemacht. Vielleicht wären die Entwicklungen ohne Twitter nicht in der Weise verlaufen. Ich korrigiere: sie wären ganz sicher nicht so verlaufen.

In den sozialen Netzwerken wird ein Mechanismus deutlich, der in die Polarisierung führt und einen immer engeren Diskurs zur Folge hat. Dahinter steht ein einfaches Gesetz: Wenn erst einmal eine Meinung den Ruf hat, rechts zu sein, haben immer weniger Linke den Mut, diese noch zu äußern. Sich gegen die eigene Bubble zu stellen, fällt schwerer, je homogener und selbstgewisser die Bubble ist. Mit der Zeit wird der Vorwurf, es handle sich um eine rechte Position, insofern zur Realität, als dass sie fast nur noch von Rechten geäußert wird.

Nicht alle Positionen sind von vornherein geklärt. Manchmal wirkt es fast zufällig, auf welche Seite sich das progressive Twittertum am Ende des Tages dann schlägt, so bei der jüngst aufgetretenen Frage, ob Mehlwürmer und Grillen in Backwaren, wie nun laut EU-Verordnung unter Auflage erlaubt, zu begrüßen sind oder nicht. Eigentlich kein Tbema, das sich für einen moralischen Diskurs eignet. Doch haben sich progressive Wortführer erst einmal für eine Richtung entschieden, in dem Fall pro Mehlwürmer, wird die Frage nach einer kurzen Phase der Unsicherheit und einem fast lebhaften, spannenden Diskurs bald schon nur noch auf der Haltungsebene behandelt. Die Frage nach dem Verzehr von Mehlwürmer ist plötzlich eine Frage der korrekten Haltung geworden; kaum jemand traut sich, der engstirnige Spießer zu sein, der Insekten rundheraus ablehnt oder gar den Motiven der EU misstraut. Die Kritiker der Verordnung hingegen wurden – nicht immer, aber meist zu Unrecht – bald schon als EU-Gegner und Verschwörungstheoretiker bezeichnet. „Wir sollten unser Ekelgefühl überwinden“, appelierte der WDR „Im Puls“, kurz nachdem die Fronten auf Twitter geklärt waren.

Medien springen auf

Wer in der neuen progressiven Akademikerklasse voll und ganz zu Hause ist, bemerkt womöglich nicht, wie stark sich die links-liberalen Medien, deren Journalisten überwiegend aus der neuen akademischen Bürgerklasse stammen, von diesem Meinungsbildungsprozess einfangen lassen. Selbst bei liberalen, intellektuell offenen Zeitungen werden die Diskurse enger, und dies ist ein Prozess, der gerade erst begonnen hat. Natürlich gibt es Journalisten, die der Klassenidentität trotzen und eine abweichende Position in den Diskurs einbringen wollen. Doch das wird immer schwieriger. Nur wenige Journalisten haben die Möglichkeit, durch eine Festanstellung „kritische“ Positionen in links-liberalen Zeitungen zu publizieren.

Das führt in die zweite Polarisierungsfalle: ein freier Journalist, der etwa den Einsatz von Pubertätsblockern bei transidenten Jugendlichen problematisieren will, wird seinen Artikel inzwischen mit großer Wahrscheinlichkeit nur noch bei den konservativen oder gar rechtspopulistischen Medien unterbringen können. Diese Fokussierung auf „Anti-Trans-Themen“ in Cicero und Co. scheinen dann den Kurs der akademischen Linken zu bestätigen, hier gegen ein zunehmend reaktionäres Denken aktiv werden zu müssen. Sie glauben sich einem erstarkenden Rechtsdrall ausgesetzt, dem besonders strenge Gegenmaßnahmen auferlegt werden müssen. Dass linke Medien selbst dieser Meinung Raum geben könnten, um so eine Stärkung der Rechten zu vermeiden, wird nicht gesehen.

Verengter Meinungskorridor

An dieser Stelle kommen nicht selten die eigenen Interessen der progressiven Bürgerklasse ins Spiel, die eine Präferenz für bestimmte Ansichten haben. Warum sich etwa in der Corona-Pandemie bestimmte Narrative und Ideen herausbilden konnten, während andere ignoriert oder gar offen bekämpft wurden, ist kein Zufall und hatte auch nicht nur mit dem jeweiligen wissenschaftlichen Stand zu tun. Sondern auch damit, welche Ergebnisse man im progressiven Bürgertum sehen wollte und welche nicht. Es mag erstaunen, aber auch die links-progressive Bürgerklasse agiert – ganz menschlich – aus Eigeninteresse.

Das Narrativ, Kinder seien Infektionstreiber und eine niedrige Inzidenz allein durch Schulschließungen erreichbar, passte vielen progressiven, digital affinen Menschen, die im Homeoffice saßen, gut ins Konzept. Nun wurde jüngst in Medien wie der ZEIT endlich reflektiert, wie eng der Meinungskorridor in der Corona-Zeit war, wie kritikresistent und starr man den einmal beschlossenen, auf Schulschließungen fokussierten Kurs medial verteidigt hat, selbst als finnische Studien nahe legten, dass Kinder keine Infektionstreiber waren. Aber auch die links-liberale ZEIT bohrt nicht tief genug, um die eigenen Rolle als „Polarisierungstreiber“ wirklich zu begreifen. Sie erkennt nicht, dass Medien – von Twitter-Bewegungen wie #BildungAberSicher angetrieben – Politik beeinflusst haben. Und wiederholt nun beim einseitigen Umgang mit dem Thema „Transgender“ dieselben Fehler, indem sie hauptsächlich aktivistische Twitterer zu Wort kommen lässt: als pures Bekenntnis zum Diktat der Progressivität.

Rechte Narrative

Es ist eine sehr triviale Weisheit, die aber in diesen Zeiten einmal klar ausgesprochen werden muss: auch als rechts bezeichnete Standpunkte und einzelne Aussagen können richtig und vernünftig sein. Denn es ist schlicht unmöglich, in keiner einzigen Frage mit den Rechten übereinzustimmen, ohne vollkommen absurde Schlüsse zulassen zu müssen. So findet man die Meinung, ökologischer Ackerbau sei wichtig, auch bei rechtsextremen Gruppen, was die Aussage nicht falsch macht. Man liest darüber, die Rechten bedienten sich ökologischer Themen, um ihre Forderungen in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Doch die Sache ist viel komplexer: Meinungen können an der Oberfläche gleich und Aussagen können richtig sein, auch wenn die Weltanschauung dahinter eine völlig andere ist.

Die Abgrenzung müsste also inhaltlich erfolgen. Doch auf der progressiven Seite von Twitter erfolgen Abgrenzung grundsätzlich als rein performative und formale Handlung. Ist eine Aussage als rechts „erkannt“ oder „gelesen“, wird jeder, der sie äußert, zu einer fragwürdigen Person, deren Kontakt gemieden werden muss, um auszuschließen, dass sie „rechte Narrative reproduziert“. Plötzlich steht, unabhängig von ihren sonstigen Weltanschauung, die ganze Person unter Verdacht und jede ihrer Aussagen. Diesen „Narrativen“ wird, postmodernen bürgerlichen Theorien sei Dank, ein nahezu sprachmagische Verbreitungspotential nachgesagt.

Dabei wird niemand rechts, weil er mit Aussagen in Berührung kommt, die sich den Ruf rechter Narrative erworben haben, so zum Beispiel die inzwischen als rechts betrachtete Aussage, es gäbe nur zwei Geschlechter. Warum rechtspopulistische Stimmungsmache bei einigen Menschen zieht, ist eine komplexe Frage, die mit sozialen Fragen zu tun hat. Doch Komplexität ist auch auf der Seite der akademischen Mittelklasse nicht zwingend gefragt. „Diesem Argument stimme ich zu, aber ich muss es trotzdem bekämpfen, weil ich sonst die Rechten unterstütze“, ist eine Haltung, über die man auf Twitter ständig stolpert. Und deren fatale Auswirkung auf die Meinungsbildung längst über die Medien ins progressive Bürgertum gedrungen ist.

Linke Selbstzensur

Mit dieser Abgrenzungspolitik, die die Welt kein bisschen von rechtspopulistischen Einflüssen freizumachen vermag, wird aber nicht nur ein Prozess der Selbstzensur verstärkt. Sondern es werden intellektuelle Positionen, die eine materialistisch linke Kritik an der sprachfokussierten Bürgerklasse darstellen könnten, zum Verschwinden gebracht. Positionen also, die ein Gegengewicht zu den oft treffenden, aber problematischen „anti-woke“ Analysen der Ultra-Konservativen und Rechten sein könnten. Diese lassen es sich natürlich nicht nehmen, mit berechtigter Kritik im Gepäck gleich auch gegen „linke Wertzersetzung“ und „Kulturmarxismus“ zu Felde zu ziehen.

Die Existenz einer echten Herrschaftskritik ist zentral für die Frage der Demokratie. Denn Bürgerliche tun, was Bürgerliche – gleich welcher Richtung – offenbar tun müssen: sie reproduzieren ihre Privilegien, schaffen gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen, verschaffen sich ideologisch Deutungshoheit, sofern man sie gewähren lässt. Auch die Progressiven bauen kapitalistisch lohnenswerte Strukturen auf, auch solche, die die urbane, akademische Mittelschicht mit guten Gefühl versorgt, auf der richtigen Seite zu stehen. Und hier unterscheidet sie sich kein bisschen von der alten, konservativen Bürgerklasse: ihr Profit geht oft genug auf Kosten anderer. Eine materialistische Sicht auf genau diese Machtstrukturen und auf die Gewinner einer bürgerlichen Bewegung war mal links, gilt aber vielen – wie wohl auch mein Beitrag – inzwischen als „rechtes Narrativ“.