Krisentreffen: Warum welcher Lidl-Chef für jedes Merz so wichtig ist

Es gehört zu den Ritualen des Berliner Politikbetriebs, dass das Kabinett mindestens einmal im Jahr außerhalb des Regierungsviertels zu einer Kabinettsklausur zusammenkommt. Diesen Dienstag und Mittwoch ist es wieder so weit, in der Villa Borsig am Tegeler See.

Tradition ist außerdem, dass die Bundesregierung zur Erweiterung des eigenen Horizonts externe Gäste aus der Wirtschaft zu diesen Klausuren einlädt. Dieses Mal wird der im amerikanischen Princeton lehrende Ökonom Markus Brunnermeier der Runde erklären, wo Deutschland in puncto Wettbewerbsfähigkeit steht. Später sollen Grazia Vittadini aus dem Lufthansa -Vorstand sowie Gerd Chrzanowski, Leiter der Schwarz-Gruppe , Impulse für die technologische Aufholjagd Deutschlands gegenüber den Vereinigten Staaten und China geben.

Spannend ist vor allem die Einladung von Chrzanowski. In der Öffentlichkeit bekannt ist die Schwarz-Gruppe durch den Discounter Lidl und die Supermarktkette Kaufland. Beide haben mit den derzeitigen Debatten in der Bundespolitik wenig zu tun. Doch seit einigen Jahren versucht der Konzern, sich mit Schwarz Digits ein neues Standbein in der Digitalwirtschaft aufzubauen. Das wichtigste Produkt dieses Unternehmens ist die Datencloud Stackit. Als „souveräne Cloud für Europa“ bewirbt die Schwarz-Gruppe sie. Zwar heißt es im Kanzleramt, dass die Einladung Chrzanowskis zur Kabinettsklausur nicht den Zweck verfolge, Behörden und Unternehmen zu einem Umstieg auf die Schwarz-Cloud zu bewegen. In die Agenda von Schwarz passt der Auftritt aber ziemlich gut – und auch in die Agenda von Friedrich Merz.

Merz: „Wir sind viel zu abhängig von Software aus den USA“

Der Kanzler hat in den vergangenen Tagen viele Auftritte vor Wirtschaftsvertretern absolviert, nicht nur, um den wachsenden Zweifeln an der Reformfähigkeit seiner Regierung entgegenzutreten, sondern auch, um außenpolitisch etwas klarzustellen. Das Verhältnis der EU und Deutschland zu den Vereinigten Staaten werde dauerhaft schwierig bleiben, lautet die Botschaft des Kanzlers an die Unternehmen. Stellt Euch darauf ein.

Vergangene Woche Mittwoch, eine Veranstaltung des Chemieverbands VCI im Atrium am Brandenburger Tor. Ein unsicherer Partner seien die Vereinigten Staaten geworden, konstatierte Merz dort. Auch wenn es ihm „in der Seele weh“ tue, das zu sagen: „Wir müssen größere Unabhängigkeit in Europa erreichen von Russland, von China, und eben auch von Amerika.“

F.A.Z.-Serie Schneller SchlauDas weitverzweigte Imperium des Lidl-Milliardärs

Am Freitag legte Merz dann während einer Veranstaltung im früheren Postbahnhof in Berlin-Kreuzberg nach, zu der ihn Gerd Chrzanowski eingeladen hatte. In seiner Rede auf dem „Schwarz Ecoystem Summit“ rückte Merz die Vereinigten Staaten in die Nähe autoritärer Systeme. Auch in den Vereinigten Staaten würden jetzt Regeln nicht mehr eingehalten, die Meinungsfreiheit infrage gestellt und Druck auf die Justiz ausgeübt, listete er auf. Diese Veränderungen seien nicht über Nacht gekommen, und „sie sind nicht mit den nächsten Wahlen plötzlich wieder verschwunden“, warnte Merz. Er wurde noch konkreter: „Wir sind bis auf den heutigen Tag viel zu abhängig von Hardware und Software, vor allem von Software aus den Vereinigten Staaten.“

Europa und Deutschland müssten unabhängiger werden. Während die Schwarz-Gruppe sonst die Öffentlichkeit scheut, durften der Rede des Kanzlers – unter strengen Sicherheitsvorkehrungen – auch Journalisten zuhören. Im Publikum des Kongresses saßen unter anderem der frühere Fußballbundestrainer Joachim Löw und Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko.

Und was ist mit einem europäischen Hyperscaler?

Erst die Rede von Merz auf dem Kongress der Schwarz-Gruppe, nun der Vortrag von Chrzanowski während der Kabinettsklausur: Im Kanzleramt versichert man, dass die zeitliche Nähe ein Zufall sei, dass man die Schwarz-Gruppe nicht geschäftlich fördere. Aber auch ohne einen Auftrag des Bundes oder eine öffentliche Werberede des Kanzlers für die Schwarz-Cloud dürfte sich der Auftritt für Chrzanowski auszahlen. So viel politische Aufmerksamkeit wurde ihm noch nicht zuteil.

Zu den Inhalten von Chrzanowskis Vortrag auf der Kabinettsklausur äußert das Unternehmen sich nicht. Der Schwarz-Chef dürfte nicht zuletzt um staatliche Ankeraufträge werben. Schon in der Vergangenheit argumentierte die Schwarz-Gruppe, dass in Amerika und China die öffentliche Hand über Jahre hinweg Aufträge an vielversprechende Start-ups vergeben habe. „Da sollten wir auch hin“, sagte der Ko-Verantwortliche für Schwarz Digits, Christian Müller, im Juni der F.A.Z. „Da braucht man keine riesigen Subventionen, da braucht man nur ein paar Änderungen bei den Ausschreibungen und Vergaberegeln.“

Zudem fordert Müller ein starkes Digitalministerium. Man dürfe das Thema nicht auf verschiedene Stellen verteilen, sonst franse es aus. Alle Digitalisierungsvorhaben sollten im neuen Ministerium gebündelt werden. Das hat die schwarz-rote Koalition im Prinzip auch so vereinbart. Angesichts der nach wie vor nicht fixierten Zuständigkeiten zwischen dem aufgewerteten Ministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt von Dorothee Bär (CSU), dem Digitalministerium von Karsten Wildberger (CDU) und dem Wirtschaftsministerium von Katherina Reiche (CDU) sieht die Schwarz-Gruppe diesbezüglich aber wohl Nachholbedarf.

Das Ziel von Schwarz Digits formuliert Müller selbstbewusst: „Wir wollen Europas sou­veräner Hyperscaler werden“, sagte er der F.A.Z. Mit dem Begriff „Hyperscaler“ sind große Speicher- und Rechenkapazitäten wie die von Amazon und Microsoft gemeint. Vor allem europäische Mittelständler sollen für Stackit gewonnen werden. In vielen Unternehmen bröckelt das Vertrauen in die ameri­kanischen Clouddienstleister spätestens seit Beginn der zweiten Präsidentschaft Donald Trumps. Schwarz pocht dabei wie andere europäische Cloudanbieter auch auf das Argument der digitalen Souveränität.

„Beim Gas waren wir von den Russen abhängig, bei der IT hängen wir an den Amerikanern“, sagt Müller. „Was ist, wenn Washington den Hahn nun einfach mal kurz zudreht?“ Die Datencloud Stackit ist nicht das einzige Projekt von Schwarz Digits. Mit Partnern zieht der Einzelhandelskonzern daneben noch ein Entwicklungszen­trum für Künstliche Intelligenz in Heilbronn hoch. Derzeit trägt Schwarz Digits mit 1,9 Milliarden Euro einen Bruchteil zum Gesamtumsatz der Gruppe von rund 175 Milliarden Euro bei.

Friedrich Merz und Gerd Chrzanowski sollen sich schon seit längerer Zeit kennen. Nicht nur durch diese Verbindung ist der Unternehmer in Berlin bestens vernetzt. In PR-Fragen berät ihn Harald Christ. Dieser hat früher erst für die SPD und dann für die FDP Politik gemacht. Heute vermittelt er in Berlin Kontakte zwischen Politik und Unternehmen. Kürzlich hat Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) Christ zum Vorsitzenden jenes Beirats ernannt, der darüber wachen soll, für welche Infrastruktur- und Klimaschutzprojekte der von der Regierung geschaffene Schuldentopf von 500 Milliarden Euro ausgegeben wird. Am Montag, einen Tag vor Beginn der Kabinettsklausur, tagte das Gremium zum ersten Mal. Von einer „großen Chance, für neues Wachstum zu sorgen und Deutschland zu modernisieren“, sprach Christ. Die Schwarz-Gruppe und die Regierung könnten demnächst noch häufiger miteinander zu tun haben.