Kölner Kallscheuer-Symposium: Einfälle gegen ein überpräsentes Heute

Otto Kallscheuers Buch „Papst und Zeit“, zu dem in der vorigen Woche die Kölner Karl Rahner Akademie ein Symposium veranstaltete, ist ein Wälzer sui generis. Beinahe tausend Seiten, davon gut zweihundert Seiten Anmerkungen erzählen von, wie es im Untertitel heißt, „Heilsgeschichte und Weltpolitik“, was aber auch wiederum nur ein Verlegenheitstitel dafür ist, dass hier ein Autor des Typs Religionsintellektueller sich an der „radikalen Zweiweltlichkeit“ einer geschichtsmächtigen Institution und ihrem Oberhaupt abarbeitet, an Kirche und Papst.
Die Wendung von der radikalen Zweiweltlichkeit stammt von Tine Stein, Professorin für Politikwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen, und Ausrichterin des Symposiums. Sie hat das, worüber es in der Theologie seit je ein großes Gewese gibt, nämlich die Verhältnisbestimmung von Natur und Übernatur, von Zeitlichkeit und Ewigkeit, von Wille und Gnade – Tine Stein also hat dieses Schwebende des katholisch-religiösen Komplexes mit Blick auf Kallscheuers Buch in die Formel einer vom Ursprung her gedachten Zweiweltlichkeit gebracht, in das theologisch seltsam fremdelnde, aber poetisch-lebensweltlich zündende Begriffspaar von Irdischem und Himmlischem: „Es kommen in der katholischen Kirche irdische und himmlische Momente zusammen. In dieser radikalen Zweiweltlichkeit liegt der Schlüssel zum Verstehen des Papsttums, so die zentrale These des Buchs.“
Ein gelehrter Schmöker, den man freiwillig nicht aus der Hand legt
Was Theologen möglicherweise integralistisch nennen würden – die Annahme eines Ineinanders von Himmel und Erde, eines biblisch gesprochen schon hienieden angebrochenen Gottesreichs –, ebendies ist für professionelle Grenzgänger wie Kallscheuer und Stein die Bedingung der Möglichkeit von metaphysischer Darstellbarkeit überhaupt. Diese unsichtbare – noch so ein nichttheologischer, wiewohl selbsterklärender Begriff – diese unsichtbare Dimension von Wirklichkeit verträgt sich tatsächlich nicht mit einem auf abschließende Vokabeln angewiesenen Zunftdenken, verträgt sich eine Drehung weiter dann auch nicht mit theologischen oder historischen Fachverlagen, wovon gleich noch die Rede ist.
Der in Köln anwesende Kallscheuer, Politikwissenschaftler und Philosoph seines Zeichens, legte dort Wert auf die Feststellung, weder Theologe noch Historiker zu sein. Der theologisch-historische Stoff seines weit verzweigten, ungemein materialreichen, von Geistesblitzen erhellten Buches, hat trotzdem (oder deshalb?) keinerlei Vermittlungsprobleme. Es ist ein gelehrter Schmöker, den man freiwillig nicht aus der Hand legen möchte. Kallscheuer leistet sich manche Saloppheit in der Darstellung, wie es programmatisch schon im zitierten Untertitel anklingt: „Heilsgeschichte und Weltpolitik“ spielt auf einen Klassiker der Geistesgeschichte an. In „Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie“ kennzeichnet Karl Löwith, woran Tine Stein erinnerte, das moderne westliche Zeitverständnis als jüdisches und christliches Erbe.
Radikale Zweiweltlichkeit als Tiefengrammatik der Aktualität
Solche dem Szientismus abholde Hintergründigkeit, solches Einfälle ausleben ist als publizistische Strategie im Verlag Matthes & Seitz natürlich gut aufgehoben. Schade, dass die Verlagswahl als Produktionsbedingung eines Otto Kallscheuer in Köln nicht eigens thematisiert wurde. Da hätte man was draus machen können. Nicht zunfttheologisch, nicht zunfthistorisch, nicht zunftpsychologisch etcetera fällt das Interesse im umfangreichen geisteswissenschaftlichen Sachbuchprogramm bei Matthes & Seitz aus. Man sucht dort vielmehr „nach Möglichkeiten der Widerständigkeit gegen ein überpräsentes Heute“ (Verlagsprospekt) und nimmt unter diesem Gesichtspunkt dann auch religiöse Thematiken wahr.
So jedenfalls erklären sich Bücher wie das besagte „Papst und Zeit“ von Kallscheuer, Mario Perniolas „Vom katholischen Fühlen“ oder „Christentum ohne Christenheit“ von Norbert Bolz, drei jüngere, gewiss nicht im Verdacht eines überpräsenten Heute stehende Matthes & Seitz-Titel. Nicht dass sie nicht schwer aktuell wären. Aber sie gewinnen der Aktualität eine Tiefengrammatik ab, die im gemeinen medialen Sagenwollen dessen, was ist, als eher störend empfunden wird, den Erkenntnisgewinn des schreiberischen Beiseitetretens schnöde übersehend. Lieber möchte man pfadabhängig aufschreiben statt sich ungewohnte Zusammenhänge zu erschließen, schreibend.
Was im neuen vatikanischen Arbeitspapier „Der Bischof von Rom“ steckt
Auf die Formel von der Zweiweltlichkeit bezogen brachte Kallscheuer sein Thema schreibend, nicht aufschreibend in vielen Sprachen zum Klingen, wie Tine Stein es in der Herder Korrespondenz (7/24) rezensorisch ausführte und in Köln erläuterte: „Er verbindet in dieser theoretisch-orientierten Problemgeschichte des Papsttums die realhistorische Analyse mit einer Interpretation der theologischen Semantik auf der Basis sozialwissenschaftlicher Fragestellungen, meidet dabei aber den Jargon jeder der hier auf ihre Forschung ausgewerteten Disziplinen.“ Man könnte sich auch trauen zu sagen: ein im besten Sinne des Wortes feuilletonistisches Werk, wenn man Kallscheuer damit nicht zu nahe tritt, was kaum zu vermuten ist.
Schade ist freilich auch, dass der flamboyante Autor nicht mehr auf das vatikanische Arbeitspapier „Der Bischof von Rom“ eingehen konnte. Das Dikasterium zur Förderung der Einheit der Christen hatte das Papier am 13. Juni 2024 vorgestellt, da war Kallscheuers Buch in erster Auflage schon drei Monate auf dem Markt. Der Bochumer Neutestamentler Thomas Söding machte in Köln darauf aufmerksam, dass in der Verhältnisbestimmung von päpstlichem Primat und Synodalität, für welche in dem vatikanischen dossierartigen Dokument von 2024 Perspektiven aufgezeigt werden, es genau darum gehen könnte, „eine Form der Primatsausübung zu finden, die zwar keineswegs auf das Wesentliche ihrer Sendung verzichtet, sich aber einer neuen Situation öffnet“, wie Johannes Paul II. am 25. Mai 1995 in seiner Enzyklika „Ut unum sint“ schrieb.
Von protestantischer und orthodoxer Seite werden die Ausarbeitungen in „Der Bischof von Rom“ gelobt, was eine ökumenisch vertretbare synodale Primatsausübung betrifft. Und Gerhard Feige, Vorsitzender der Ökumenekommission der Deutschen Bischofskonferenz, erkennt in dem Dossier einen „beeindruckenden Überblick über die Antworten auf die Bitte von Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika ,Ut unum sint’ (1995), in einen Dialog über die Ausübung des Petrusdienstes einzutreten“. Feige hält zudem fest: „In den Text sind auch Vorarbeiten des Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik in Paderborn und des von ihm initiierten Gemeinsamen orthodox-katholischen Arbeitskreises St. Irenäus eingeflossen.“
Geheimtipp für Reformwillige: Johann Adam Möhler entdecken!
Welch ein Gewinn wäre es für Kallscheuers Buch gewesen, der Autor hätte solche ausgearbeiteten synodalen Perspektiven eines ökumenisch abgestuften Papstamtes noch erörtern können. Insbesondere harrt vor diesem Hintergrund der genannte katholische Reformtheologe Johann Adam Möhler neuerlicher Befassung, Exponent einer jüngeren Tübinger Schule der Kirchen- und Bibelforschung, welcher Möhlers wirkmächtiges Hauptwerk „Symbolik“ entsprang.
Wobei der Münsteraner Dogmatik-Professor Michael Seewald in Köln zur Nüchternheit riet, was die „Domestizierung von Kritik durch die Simulation von Mitbestimmung“ im synodalen Paradigma von Papst Franziskus angeht, das im Kallscheuer-Buch eingehend rekapituliert wird. Seewalds Tübinger Kollegin Johanna Rahner, Professorin für Dogmatik und Ökumenische Theologie, klang diesbezüglich nicht nur nüchtern, sondern defaitistisch. Letzteres würde dem zweiweltlich gelassenen Otto Kallscheuer nicht im Traume einfallen. Mit Thomas Söding mahnt aber auch er: „Papst, es wird Zeit!“.
Source: faz.net