„Köln 75“: Das Höllen-Konzert
Die ersten fünf Töne der bis heute meistverkauften
Solo-Platte kennen die meisten Menschen, ob sie es wollten oder nicht. Keith
Jarrett steuert mit einer Melodie auf nur weißen Tasten einen Moll-Akkord an, das Hallpedal ist
runtergedrückt. In diesem einfachen Dreiklang, mit dem das im Januar 1975
aufgenommene The Köln Concert beginnt, erholen sich die
Siebzigerjahre vom gescheiterten Anspruch der gesellschaftlichen Erneuerung. Jarrett
hatte zu dem Zeitpunkt ein paar Jahre Solokonzerte hinter sich, in denen er
US-amerikanischen Folk, den Kontrapunkt von Bach und die
komplexe Rhythmik des Jazz improvisierend kreuzte wie keiner
vor oder nach ihm. Die Kölner Aufnahme ist ein, Pardon für die Phrase,
Meilenstein der Musikgeschichte.
Das Bild auf dem
ikonischen Plattencover, das Jarrett konzentriert und mit geneigtem Kopf am
Flügel zeigt, sieht man erst kurz vor Ende des Films Köln
1975 von Ido Fluk. Aber man hört nicht die berühmte
Tonfolge, die der Komponist vom Pausengong der Oper abgewandelt hat. Nein, der
Soundtrack spielt To Love Somebody von den Bee Gees in der Version von
Nina Simone. Ein Schock. Die Musikauswahl ist zum Teil aus der Not geboren: Der
Film durfte die Aufnahme nicht verwenden und auch sonst nichts von Keith
Jarrett. Es ist aber auch inhaltlich konsequent: Denn es
geht in Köln 1975 nicht in erster Linie
um den Künstler, sondern um die junge Frau, die seinen Auftritt möglich gemacht
hatte.
Knapp zwei Filmstunden arbeitet die
erst 18-jährige, überforderte, überschäumende und hartnäckige Veranstalterin Vera Brandes (Mala Emde)
auf diesen Moment hin. Es ist ihre Geschichte, ihr Film. Keith, in Köln, volles
Haus: Das Hippiemädchen, das Jazz statt Rock hört, hat es geschafft. Aber kein
Ton vom Köln Concert. „You don’t know what it means to love
somebody“ könnten auch die Worte sein, die Vera ihrem Vater
entgegenschmettert, dem strengen Zahnarzt, von Ulrich Tukur als Fiesling gespielt.
Dieser Vater hatte als Junge die
Scheinwerfer auf den Nachthimmel über Köln gerichtet, um der deutschen
Flugabwehr
die alliierten Bomber anzuleuchten. Sein Trauma bewältigt er nun, indem er dem ausgehenden Wirtschaftswunder wehtut, das bei ihm auf dem
Zahnarztstuhl sitzt. Die Praxis liegt im Keller des Eigenheims, einem
Wohlstandsbunker, in dem die Mutter (Jördis Triebel) aus Protest schon zum
Frühstück raucht. Der Sohn hasst alle. Die Tochter attackiert mit kurzem
Wildlederrock und radikaler Liebe – für die Musik. Vera hat zwar einen
Freund, aber verknallt ist sie in den Jazz, die Wunderwaffe gegen alle Spießer.
Köln 75 ist eine Geschichte
der Emanzipation, ein Coming-of-Age-Film über eine junge Frau. Er erzählt viel
von Flower-Power und Emanzipation im wieder erstarkten Westdeutschland und blickt gleichzeitig durch
die Brille heutiger Geschlechtervorstellungen auf die Seventies. Vera
dominiert ihre Clique, die jungen Männer bleiben Kulisse. Die
Schauspielerin Mala Emde verkörpert den Lebenshunger und die Musikverliebtheit
ihrer Figur in jedem Bild mit viel Körperspannung.
Früh im Film wird der Voyeurismus
abmoderiert, der in der Konstellation junges Mädchen – ältere Jazzmänner
lauert. Als Eva und ihre Freundin Isa
(Shirin Lilly Eissa) in einem Jazzclub den britischen Saxofonisten Ronnie Scott
sehen, befürchtet man schon, dass der alte Mann die junge Frau mit seiner Star-Power verführen will. Eva ist da noch 16, posiert als 25, die beiden essen
spätnachts Eis. Und als sie schon denkt, dass er sie ins Hotel bitten wird,
sagt er etwas ganz anderes: „Buch mir eine Tournee durch Deutschland.“ –
„Warum ich?“, fragt Vera. – „Weil dich niemand ablehnen kann.“ Schnell
geschnitten und lustig gespielt sind die ersten Booking-Versuche der Schülerin,
die nachts aus der Zahnarztpraxis heimlich telefoniert (Anrufe waren teuer,
Kinder!), und, als die ersten Gigs stehen, schnellstens von zu Hause auszieht.