Klinikschließungen | Gegen Lauterbachs Krankenhausreform: Überversorgung gibt es nur auf dem Papier

In der deutschen Kliniklandschaft herrscht Unruhe. So mancher Chefarzt, manche Bürgermeisterin und mancher Landrat dürfte schlaflose Nächte haben, weil sein oder ihr Krankenhaus bedroht sein könnte und damit die Attraktivität des Standorts. Denn gerade in ländlichen Gebieten ist ein Krankenhaus ein bedeutender Infrastrukturvorteil. Doch viele Kliniken – nicht nur auf dem Land – sind bedroht von den Plänen des Gesundheitsministers, der diesen eine „Revolution“ verordnet hat.

Die von Karl Lauterbach (SPD) eingesetzte Regierungskommission legte im Dezember ein Konzept vor, das versprach, das System der Fallpauschalen zurückzudrängen und die gesamte stationäre Infrastruktur einer „Verschlankung“ zu unterziehen. Erinnert sei daran, dass von den im Jahr 2000 bestehenden 2.242 Häusern 2021 nur noch 1.887 existierten. Inzwischen ist die Zahl auf 1.697 Standorte geschrumpft. 2023, so das Bündnis Klinikrettung, stehen 74 bereits beschlossene oder drohende Schließungen an. Derzeit tagt, weitgehend öffentlichkeitsfern, eine Bund-Länder-Runde, die über die Umsetzung der Vorschläge debattiert.

Dass es mit dem angekündigten Ende der Fallpauschalen, nach denen Kliniken für einen bestimmten Eingriff einen festen Betrag erhalten – ungeachtet von Komplikationen und Liegedauer –, nichts geworden ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Von den geplanten 40 Prozent Vorhaltepauschale, die Lauterbach einem normalen Krankenhaus zugesteht, könnte es sich nicht finanzieren, weil gleichzeitig lukrative Leistungsbereiche wegfallen. Vorhaltepauschalen sind Mittel, die eine Einrichtung für ihr Leistungsangebot erhält, unabhängig von Patientenzahlen und Eingriffen. Lediglich für Bereiche wie Geburtshilfe, Notfall- und Intensivabteilungen sowie Pädiatrie, in denen nichts planbar ist, würden 60 Prozent vorgeschossen.

Aber vom Finanzierungsmodell einmal abgesehen, liegt die Krux des Expertenvorschlags in der Strukturreform. Jedes Krankenhaus soll neu bewertet und einer Klasse zugeordnet werden (siehe Grafik). Universitätskliniken und Maximalversorger – Einrichtungen also, die viele Fachabteilungen und hochmoderne medizinische Gerätschaften vorhalten – stehen an der Spitze, ganz am Ende die kleinen Häuser, die nur noch als ambulant-pflegerisches Versorgungszentrum bestünden. Ein Großteil dürfte im Laufe dieses Selektionsprozesses ganz geschlossen werden.

Quelle: Kommissionsbericht

Die beiden städtischen Krankenhäuser in Dresden wurden schon 2017 zusammengelegt, mit nun zwei Standorten. Es ist die einzige Klinik in Sachsen, die noch nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst bezahlt. Im Zuge der Ökonomisierung, erzählt Dorit Hollasky vom Pflegebündnis Dresden gegenüber dem Freitag, gab es wiederholte Vorstöße, am Standort Neustadt zu sparen oder ihn zu verkaufen, die Kinderklinik wurde nach Friedrichstadt verlegt. Pläne, Neustadt ganz zu schließen, konnten von den Beschäftigten mit Unterstützung der Bevölkerung bislang verhindert werden. „Dresden hat 500.000 Einwohner, eine Uniklinik, das städtische Krankenhaus und wenige kleine Häuser. Von Überversorgung kann keine Rede sein, weil Kliniken im Umland geschlossen und in Dresden Betten stillgelegt wurden“, sagt Hollasky.

Mit einer noch bestehenden Notfall- und Intensivversorgung, einer chirurgischen und medizinischen Station sowie zusätzlichen Fachabteilungen würde Neustadt die von der Kommission festgelegten Kriterien erfüllen, bei der 30-Minuten-Regel allerdings, nach der ein Patient innerhalb von 30 Minuten eine Klinik mit dem Auto erreichen können muss, könnte es schwierig werden. „Theoretisch ginge das, allerdings nur, wenn es keinen Stau über die Elbe gibt.“ Hollasky verweist auf die „Leuchttürme“ des Standorts Neustadt, die Neurochirurgie und die Adipositas-Chirurgie. „Seitdem aber auch die Allgemeine Neurologie und damit die Schlaganfälle ausgelagert wurden, ist die Notaufnahme weniger ausgelastet. Es gibt viel Unmut, denn in Friedrichstadt stehen Patienten Schlange.“

Qualität statt Menge

Dresden-Neustadt dürfte einer der Kandidaten sein, die im Rahmen der Zentralisierung verschwinden oder nur noch als ambulant-pflegerisches Zentrum erhalten bleiben. Mittlerweile hat die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) eine Studie in Auftrag gegeben, die die Auswirkungen der von der Kommission vorgeschlagenen Reform analysiert. Erstellt wurde sie ausgerechnet von Boris Augurzky, federführender Gesundheitsökonom in der Lauterbach-Kommission. Die Ergebnisse haben selbst die DKG, für die Reform durchaus aufgeschlossen, alarmiert. Auf Grundlage der verfügbaren Daten, die auch die Fachkliniken einbeziehen, errechneten die Modellierer, dass von den 1.697 heute aktiven Krankenhäusern 631 entweder auf das Level Ii herabgestuft oder ganz geschlossen würden. Nimmt man die 30-Minuten-Regel hinzu, würden von den auf Level In eingestuften Grundversorgern (insgesamt 830) noch einmal 560 wegfallen (siehe Grafik).

Das würde etwa die Lausitz Klinik im brandenburgischen Forst betreffen. Die dortige Entbindungsstation ist sehr beliebt, Frauen aus Cottbus und von weiter her bringen ihre Kinder in der Grenzstadt zu Polen auf die Welt. Die kleine Klinik garantiert individuelle Betreuung, denn durchschnittlich wird nur ein Kind täglich geboren. Zu wenig: Nach Kommissionsvorstellungen müssten es mindestens 500 pro Jahr sein. Selbst wenn das Haus umgebaut und größer würde, erklärt Geschäftsführer Hans-Ulrich Schmidt gegenüber dem rbb, woher sollen diese Mittel kommen? Lauterbachs Reform ist erklärtermaßen kostenneutral. DKG-Chef Gerald Gaß befürchtet, dass es auch große Entbindungsstationen mit 2.000 Geburten pro Jahr treffen könnte, wenn die 30-Minuten-Regel angewendet wird. Dann müssten sich, so die Auswirkungsstudie, 56 Prozent aller werdenden Mütter auf einen weiteren Weg machen.

Bedeuten 360 Geburten im Vergleich zu 500 notwendig schlechtere Qualität, wie der Minister und seine Kommission insinuieren? Wenn man dies aufwiegt gegen die größere Zuwendung, die Frauen und Babys in einem kleineren Haus möglicherweise erfahren? Auch Dorit Hollasky und Manuel Humburg verweisen auf die besseren pflegerischen und atmosphärischen Bedingungen kleinerer Häuser. Humburg, nun verrenteter Hausarzt und jahrzehntelang eng mit dem Krankenhaus Groß-Sand im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg verbunden, hat den Kampf um den Erhalt der Klinik begleitet. Das zunächst von der Bonifatius-Gemeinde, dann vom katholischen Erzbistum getragene Haus ist immer noch ein echtes „Kümmerer“-Krankenhaus, erklärt Humburg gegenüber dem Freitag, das einzige auf der Elbinsel, auf der viele junge Menschen mit migrantischem Hintergrund leben. „Ein Riesenpotenzial für den pflegerischen Nachwuchs. Doch das Bistum hat die Pflegeschule, Flaggschiff der Klinik, geschlossen.“

Seit längerem will der Träger die verschuldete Klinik loswerden, doch die Verhandlungen ziehen sich hin. Wie Neustadt hält auch Groß-Sand die notwendigen Abteilungen vor, und der Weg von der Insel durch den verstopften Elbtunnel dauert und wäre bei einer Flut abgeschnitten. Momentan gibt es noch Verhandlungen mit der Albertinen-Gruppe (Diakonie), aber die neuen Rahmenbedingungen machen den Ausgang ungewiss.

Dass die Reform nicht in der von Lauterbach gewünschten Form umgesetzt werden kann, steht für die DKG fest, denn sie würde bedeuten, dass in den meisten Fachgebieten die Hälfte der Patient:innen viel längere Wege in Kauf nehmen müsste. Und Hollasky ist skeptisch, ob der Pflegekräftemangel durch die Klinikschließung abzumildern ist: „Die meisten Kollegen wollen in Neustadt bleiben“, sagt sie. In der Sitzung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe setzten die Bundesländer, mit besonderem Druck aus Bayern, Öffnungsklauseln durch, die zumindest für den Strukturplan Abweichungen und Ausnahmen zulassen. Auch wenn der bayrische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) daraus sein parteipolitisches Süppchen rührt, scheint der Widerstand an der Basis doch enorm, und die Klinikrettungs-Bewegung wird im Verein mit den Beschäftigten an den Krankenhäusern ein turbulentes Jahr erleben.