Kirill Serebrennikov wird für ein Anti-Putin-Stück am Hamburger Thalia Theater gefeiert

Pianist Orlow in »Barocco«: Mit der Handschelle am Klavier
Foto: Fabian Hammerl
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Ist die Selbstverbrennung der ultimative Akt der Rebellion? Filmbilder von Menschen, die sich in Flammen setzen, sieht man immer wieder auf der Bühne des Hamburger Thalia Theaters an diesem Donnerstagabend. Zu schöner Musik, unter anderem von Georg Friedrich Händel und Antonio Vivaldi, schleudern Tänzer brennende Tücher durch die Luft, werden Flammen auf einem Tisch entzündet, darf ein Schauspieler ein Puppenhaus symbolisch abfackeln.
Eine Erzählerstimme erinnert an den 20-jährigen Jan Palach, der sich im Januar 1969 auf dem Prager Wenzelsplatz selbst verbrannte aus Protest gegen die Unterdrückung der Freiheit und den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in seinem Land. Dazu gibt eine Darstellerin die Parole aus: »Wir alle sind die letzte Generation.«
Es ist ein mitreißender, finsterer, aber auch ein bisschen verrückter Abend, den der russische Regisseur Kirill Serebrennikow da in Hamburg veranstaltet. Serebrennikow, 53, ist am Thalia Theater »Artist in Residence« und erzählt von heutigen Klimaklebern, den damals in Prag einrollenden Sowjetpanzern und auch vom Pariser Aufstand des Jahres 1968.
Er zeigt den Pianisten Daniil Orlow, an dessen rechtem Handgelenk ein Mann in Polizeiuniform eine Handschelle angebracht hat, während Orlow mit der linken Hand ein sehr hübsches Klavierstück spielt. In einer Szene wird das Attentat der angeblichen Feministin Valerie Solanas auf Andy Warhol in New York im Juni 1968 nachgestellt – mit gleich sechs Darstellern in Warhol-Perücken, die synchron zu Boden stürzen, als die Schüsse krachen.
Der Regisseur nennt die Show ein »musikalisches Manifest«
Serebrennikow ist der derzeit wohl bekannteste russische Künstlermensch im deutschen Exil. Im vergangenen Jahr ist er nach vielen Nachstellungen durch die Mächtigen in Russland und zeitweiligem Hausarrest nach Berlin gezogen. Als er vor ein paar Monaten zuletzt in Hamburg inszenierte, gab es bei der Premiere noch Protest gegen die Arbeit eines russischen Künstlers, ukrainische Aktivistinnen und Aktivisten demonstrierten vor dem Theater. Diesmal bleibt es vor dem Haus ruhig. Die Demonstration findet dafür am Ende der Show im Saal statt.
Nach knapp zweieinhalb Stunden erheben sich fast alle Zuschauerinnen und Zuschauer im Parkett und auf den Rängen und applaudieren minutenlang. Prächtig unterhalten, überwältigt und öfter auch überfordert von einem Musik- und Theaterabend, über den es im Programmheft heißt: »Wir widmen die Aufführung allen verfolgten Künstlern, in Russland und überall auf der Welt.«
Der Regisseur nennt das Spektakel »Barocco« ein »musikalisches Manifest«. Eine erste Fassung hat er 2018 in Russland herausgebracht. Der Titel spielt einerseits auf die Auswahl von Musik- und Gesangsstücken an und andererseits auf die ursprüngliche Bedeutung des Worts »barocco«, mit dem wohl eine unregelmäßig geformte, unperfekte Perle gemeint war. »Es geht um den Kampf darum, einzigartig sein zu dürfen. Das ist der Kampf gegen ein System der Unterdrückung, wie ich es erfahren habe«, wird Serebrennikow in einem Text des Theaters zitiert. Den Abend bezeichnet er als »Gesamtkunstwerk«.
Schamlos werden berühmte Kinobilder geklaut
Serebrennikow lässt den Countertenor Odin Biron herzzerreißend den »Cold Song« aus Henry Purcells »King Arthur« singen, den auch viele Popfans kennen. Die Sopranistin Nadesda Pawlowa tritt in einem Goldkostüm als überirdische Diva auf. Es werden schamlos berühmte Bilder aus Filmklassikern geklaut und zur Musik einer Band und eines Streichquintetts auf der Bühne neu erfunden. Man sieht eine Plastiktüte im Wind zweier Ventilatoren tanzen, ganz ähnlich wie in dem Film »American Beauty« von Sam Mendes aus dem Jahr 1999. Ein offenbar von Künstlicher Intelligenz erstelltes Video verfremdet die Explosionsszenen aus »Zabriskie Point« von Michelangelo Antonioni aus dem Jahr 1970.
Als sei ihm der Pomp der Videobilder selbst mitunter zu viel, präsentiert Serebrennikow zwischendurch gleich mehrmals den brasilianischen Straßensänger Jovey, den er in Berlin entdeckt hat. »Die Menschen aus der Ukraine fliehen vor dem Krieg«, sagt der 24-jährige Musiker. »Die Menschen aus Russland fliehen vor der Willkür.«
Es ist ein buntes, nur manchmal pathetisches, auch konfuses Durcheinander von Parolen und Statements, Clownseinlagen und tollen Gesangsauftritten, das im Thalia Theater zu bewundern ist. Eine Beschwörung von Tod, Schmerz und Schönheit, die offensichtlich als Aufruf zum Widerstand verstanden werden soll. Natürlich kann man die Feuersymbolik, die es in dieser Aufführung ständig irgendwo brutzeln und züngeln lässt, ein bisschen aufdringlich finden. Man darf es aber auch freundlicher formulieren: Hier scheint mal ein Regisseur wirklich zu brennen für sein Verständnis von aufrichtiger Haltung und Kunst.