Kino | Fatih Akins „Amrum“: Heimat heißt, man hat mit Nazis zu tun
Anfang Juni, wenige Wochen nachdem Fatih Akins neuer Film Amrum in Cannes seine Premiere gefeiert hatte, landete eine E-Mail im Postfach. Sie lud zum Interview mit Akin ein und enthielt folgendes Zitat des Regisseurs: „Viele Freunde und Bekannte reden davon, Deutschland zu verlassen, weil sie in einer Art Disneyland Deutschland lebten. Aber Goethe sagte: ‚Wo wir uns bilden, da ist unser Vaterland.‘ Und dieses möchte ich nicht den Nazis überlassen.“
Ohnehin ist Amrum für Fatih Akin ein besonders persönliches Projekt. Der inzwischen 86-jährige Filmemacher Hark Bohm, der als Autor schon an Akins Tschick und Aus dem Nichts beteiligt gewesen war, hatte seine Kindheit auf der Nordseeinsel Amrum in einem Drehbuch verarbeitet. Aus gesundheitlichen Gründen konnte er es nicht selbst verfilmen und schlug das Projekt seinem Freund Fatih Akin vor.
Auch ich, der Filmjournalist, habe einen persönlichen Bezug zu Amrum – und zu Fatih Akin. In den 1980ern bin ich in Nordfriesland aufgewachsen. Der Hafen, von dem aus die Fähren nach Amrum ablegen, ist von meinem Dorf nur 20 Autominuten entfernt. Die frühen Filme Akins erweiterten Mitte der 90er schlagartig meinen Horizont. Nun trafen die Worte des Regisseurs über das „Disneyland Deutschland“, über Goethe und Nazis zusätzlich einen persönlichen Nerv. Ich spürte: Darüber muss ich mit Akin sprechen, dazu will ich etwas schreiben! Und darum handelt dieser Text manchmal auch von mir, und ich schreibe ausnahmsweise hin und wieder „ich“.
Fatih Akins deutsche Seele
Dass Hark Bohm zu den prägenden deutschen Filmemachern der 1970er und 80er Jahre zählt, wissen heute wohl nicht mehr viele. Seine wichtigsten Filme Nordsee ist Mordsee und Yasemin erzählten so spannend wie ungeschönt von alltäglichem Rassismus und richteten sich vor allem an ein junges Publikum. Für den filmischen Nachwuchs wurde er als umtriebiger Förderer und Ausbilder zu einem wahren Leuchtturm.
Das maritime Bild ist hier naheliegend, denn Bohm lebte nicht nur als Kind bis zum Alter von zwölf Jahren auf Amrum, er wurde 1939 in Hamburg geboren. Seine Eltern waren überzeugte Nationalsozialisten. Fatih Akin, der 1973 in Hamburg geborene Sohn türkischer Einwanderer, zögerte zunächst, Bohms jüngstes Drehbuch zu seinem Film zu machen. Der persönliche Bezug stellte sich erst richtig bei der Endfertigung ein. Amrum wurde für Akin zu einer „Mission“, zu einer „Reise in die Tiefen ‚meiner deutschen Seele‘“, auch als Reaktion auf die Überlegungen seiner Freunde und Bekannten, das Land zu verlassen.
So romantisch-pathetisch, wie diese Sätze klingen, ist Amrum glücklicherweise nicht. Hier bildet die Landschaft des Wattenmeers nur die atemberaubende Kulisse für mühsame Landarbeit, hin und wieder fliegen britische Bomber über die Insel. Mittendrin: der zwölfjährige Nanning (Jasper Billerbeck). Er lebt mit Mutter Hille und Tante Ena unter einem Dach. Gesprochen wird vor allem das spröde klingende Öömrang, der speziell auf Amrum heute noch gebräuchliche friesische Dialekt, der dankenswerterweise auch im Film zu hören ist und deutsch untertitelt wurde. Hille ist eine fanatische Hitler-Gläubige, hochschwanger und im Dauerclinch mit ihrer politisch anders gesinnten Schwester.
Als die Nachricht von Hitlers Selbstmord aus dem Volksempfänger schallt, sind die Reaktionen gemischt, die Inselbewohner belauern einander, hin- und hergerissen zwischen Furcht, Hoffnung und Trotz. Hille (Laura Tonke) verfällt in Depressionen. Nur ein Weißbrot mit Butter und Honig würde sie zu sich nehmen. Diese in Zeiten strenger Rationierung von Grundnahrungsmitteln unerschwingliche Mahlzeit zu besorgen, wird zu Nannings Mission. Wenn er das für seine Mutter besorgen kann, wird alles gut.
Aufgewachsen in Hamburg
Gut vierzig Jahre später wurde man als Schüler in Nordfriesland mit der Zeit des Nationalsozialismus durchaus konfrontiert. Der Besuch der KZ-Gedenkstätte bei Husum war obligatorisch. Von dort waren einst Zwangsarbeiter zu Fuß ins Marschland geschickt worden, um die Einheimischen beim Bau des sogenannten Friesenwalls zu unterstützen – eine schon recht verzweifelt wirkende Abwehrmaßnahme gegen die befürchtete feindliche Invasion.
Von dem, was 1945 auf Amrum los war, hatte ich wenig Ahnung. Von Hamburg wusste ich mehr. Dort war in den späten 80ern politisch was los, die Musikszene explodierte und einige Jahre später auch das Kino, mit Kurz und schmerzlos von Fatih Akin. Gefühlt war der vor allem ein Türke, der mit anderen „Türken, Griechen und Jugos“ Filme gegen den Strich machte – und alle waren unverkennbar Hamburger, also deutsch. Als Akin dann später – bei einer Pressekonferenz zu Gegen die Wand – gefragt wurde, ob er auch mal „einen deutschen Film“ drehen wollen würde, machte das wütend. Akin und seine Filme waren gute Gründe, sich als Deutscher ein wenig wohler in seiner Haut zu fühlen.
Nun hat Fatih Akin einen Film über Amrum gemacht, also über die Gegend meiner Kindheit, und er schreibt, dass seine Freunde und Bekannten (gefühlt zählen dazu eben auch all die „Türken, Griechen und Jugos“) überlegen, dieses Land zu verlassen. Ich sitze ihm gegenüber, Ende Juni auf einer Hotelterrasse, und ahne, dieses „Disneyland Deutschland“, von dem Akin sprach, hat auch mit meinem Unbehagen zu tun. Also rede ich von den Forderungen nach neuer „Wehrhaftigkeit“ und von meinem Eindruck, dass manch einer fast froh zu sein scheint, endlich wieder ein Feindbild von außen zu haben, statt das eigene System infrage stellen zu müssen.
Den Eindruck teilt Akin nicht. Er antwortet mit dem, was ihm der Autor Szczepan Twardoch von der Front in der Ukraine erzählt hat. „Da gibt’s keine geordnete Armee, keine Hierarchien. Das sind Typen wie du und ich, die dieses Land verteidigen, völlig improvisiert. Mit Alukleber und Drohnen aus dem Baumarkt. Die verteidigen ihr Land, weil es denen sonst nicht mehr gehört.“
Akin versteht es „nicht heroisch“, sondern als existenziell und pragmatisch, wenn er sich fragt, wie er im Fall einer „Bedrohung von außen“ handeln würde. „Ich glaube, ich wäre der Typ, der zu seinen Kindern sagt: Ihr haut ab, ich mach das hier.“ Während seine Freunde und Bekannten darüber reden, im Zuge des Aufstiegs der AfD das Land zu verlassen, sagt Akin: „Wenn die Nazis das hier übernehmen wollen, dann hat man das zu verteidigen. Du gibst die Deutungshoheit ja ab, wenn du hier weggehst.“
„Ich hab den Pass, also bin ich Deutscher“
Über sein anfängliches Zögern, Amrum zu verfilmen, sinniert er: „Ich habe den Pass, also bin ich Deutscher. Trotzdem war meine Frage: Kann ich das machen? Kann ich eine weiße Familie erzählen – ohne Klischees und so präzise wie möglich?“ Über seine Recherchen sei er dann auf das Zitat gestoßen: „Wo wir uns bilden, da ist unser Vaterland.“ Wenn Goethe da recht hat, sagt Akin, „dann wäre ich ja ein Deutscher“. Und weil das „Bilden“ nicht nur mit „Entwicklung“, sondern auch mit „Bildung“ zu tun hat, reden wir noch darüber, wie Akin von Hark Bohms frühen Filmen geprägt wurde.
Er sagt: „Als ich ,Nordsee ist Mordsee‘ im Fernsehen gesehen habe, war ich völlig geflasht.“ In dem fast dokumentarisch direkt wirkenden Film mobben der vernachlässigte Teenager Uwe und seine Gang den asiatischen Jungen Dschingis, der sich auch mit ein bisschen Karate zur Wehr setzt. „Wir Türkenkinder konnten uns natürlich alle mit Dschingis identifizieren“, erinnert sich Akin. „Auch bei uns hing ein Bruce-Lee-Poster an der Wand. Hark hatte die Codes seine Zeit auch in der Beziehung voll erkannt.“
Bohms Film Yasemin, das deutsch-türkische Liebesdrama, wurde zum Schlüsselerlebnis: „Der wurde buchstäblich vor meiner Haustür gedreht, mitten in Altona. Der Film handelt von Türken in Deutschland, von uns. Aber ich fand die Art und Weise, wie er uns darstellt, falsch. Ich dachte: Ey, ich muss das geraderücken. So bin ich zum Film gekommen und so habe ich ,Kurz und schmerzlos‘ gemacht.“ Es ist ein offenes, engagiertes Gespräch, aber nicht ganz das, was ich erwartet hatte.
Dass die Vorstellungswelten von Journalist und Künstler auch folgenreicher auseinandergehen können, zeigte sich vor zwei Wochen, als Fatih Akin auf seinem Instagram-Account den Screenshot eines Interviews postete. Die Überschrift lautete „Regisseur Akin pocht auf deutsche Verantwortung für Israel“. Darüber hatte Akin geschrieben: „Falsche Darstellung! Ich poche auf die deutsche Anerkennung Palästinas!“
„Du bist nicht schuld, aber du hast damit zu tun“
Was war passiert? Ein Kollege vom Redaktionsnetzwerk Deutschland hatte an jenem Juni-Tag mit Akin über ein Filmzitat gesprochen, in dem es um die Verantwortungen für die Verbrechen der Nazizeit geht. „Du bist nicht schuld,“ sagt ein Onkel zu Nanning, „aber du hast dennoch damit zu tun.“ Aus dem Satz leite sich, so Akin, auch die „bedingungslose Verteidigung des Existenzrecht Israels“ ab.
Weder der aktuelle Gaza-Krieg noch Palästina spielten in dem Gespräch eine Rolle. Aber etliche Medien machten diese Äußerung zur großen Schlagzeile, was sich dann so las, als hätte sich mit Akin ein prominenter Künstler im aktuellen Konflikt einseitig „pro Israel“ positioniert. Nachdem Akin widersprochen hatte, wurden die entsprechenden Meldungen ergänzt, der Spiegel gab seinem Artikel erst eine neue Überschrift und zog ihn dann zurück.
Man wäre wohl nicht schlecht beraten, unsere Projektionen aufs Gegenüber immer wieder zu hinterfragen und eher zu beschreiben, als nach eindeutigen Stellungnahmen zu suchen. Die historische Übergangswelt in Amrum beschreibt Akin jedenfalls zupackend und ungeschönt. Wenn man Nanning bei aufkommender Flut durch das Watt begleitet, seine Unsicherheit spürt, aber auch seinen Willen, ganz pragmatisch das zu tun, was ihm richtig erscheint, dann liegt darin auch eine berührende Zartheit. Sie mag aus Respekt gewonnen sein – und aus dem Wissen, dass alles, was „mit uns zu tun“ hat, uns auch etwas „zu tun“ gibt.
Amrum Fatih Akin Deutschland 2024, 124 Minuten