„Kill Boksoon“: Mama, die Mörderin

Ein Mann im weißen Hemd, das von Blut rot gefärbt
ist, liegt vor einer Kirche auf dem Boden, umringt von Leichen, und weint um
einen verlorenen Freund. Kurze Rückblenden zeigen noch einmal, wie die beiden
sich kennen und lieben lernten, aus der Ferne ertönt eine Mundharmonika. Kaum
ein Film hat Gewalt und Pathos so geschickt verschränkt wie John Woos The
Killer von 1989. Der Regisseur aus Hongkong gilt als Erfinder eines ganz eigenen Stils: Heroic Bloodshed, also „heldenhaftes
Blutvergießen“, beschreibt Actionfilme, in denen hochstilisierte, opernhafte
Gewalt auf Themen wie Ehre, Liebe und Freundschaft trifft. Actionfilme, in
denen harte Typen auch weinen dürfen.
Das Heroic-Bloodshed-Kino hat inzwischen von
Hongkong aus seinen Weg in die Welt gefunden. Die John-Wick-Reihe zum Beispiel, die in den
deutschen Kinos gerade ihren vorläufigen Abschluss findet, ist stark
beeinflusst von dem Genre, das meist einem klassischen Plot folgt: Ein Auftragskiller
will aussteigen oder er führt einen Job aufgrund moralischer Prinzipien nicht
richtig aus und scheitert an den Ehrenkodizes des
Gewerbes, das so was natürlich gar nicht gern sieht. Ähnliches passiert in dem südkoreanischen Film Kill Boksoon, der seine Premiere bei der
Berlinale feierte und nun weltweit bei Netflix zu sehen ist. Mit einem
entscheidenden Unterschied: Die Protagonistin ist eine Frau, huch, und sogar
eine Mutter. Selten musste eine John-Woo-Figur Kind und Killen unter einen Hut
bringen. (Höchstens in Hard Boiled, da kommt es zu einer Schießerei auf
einer Neugeborenenstation.) Neben den komplizierten Regeln des Gewerbes und ihren
durch diese Regeln verkomplizierten Freundschaften muss sie auch noch verhandeln,
wie man ein guter Elternteil ist.
Die Protagonistin ist Gil Boksoon (Jeon Do Yeon), für ihre
Freunde „Kill Boksoon“. Regisseur Byun Sung Hyun entwirft eine Welt, in der über das
Auftragsmorden gesprochen wird, als wäre es die K-Pop-Industrie. Ein Auftrag
wird als „Show“ bezeichnet, über eine junge Frau, die sich noch in der
Ausbildung befindet, sagt man, sie werde bald „debütieren“ – eine Vokabel, die
auf dieselbe Weise im südkoreanischen Popmusikgeschäft verwendet wird. Nach
Feierabend trifft sich die Szene in einem Nudelrestaurant und diskutiert: Die
marktführende Mordfirma, für die auch Boksoon arbeitet, hat das Geschäft
weitestgehend monopolisiert und andere Firmen verdrängt. Deshalb verdient sie
auch besser als die Kollegen. Von so transparenten Gesprächen über Löhne und
Arbeitsbedingungen können wohl viele Zuschauende mit realen und legalen Jobs
nur träumen.
Beruflich läuft also zunächst noch alles glatt. Privat steht
Boksoon aber bereits vor Herausforderungen. Herausforderung Nummer eins: die Tochter
Jae Young (Kim Si A) erziehen. Wie soll man zum Beispiel das Rauchen verbieten,
wenn man selbst raucht, was ja durchaus verständlich ist bei so einem
stressigen Beruf? Herausforderung Nummer zwei: die Tochter überhaupt verstehen. „Hast du endlich mal einen Freund?“, fragt Boksoon.
Jae Young ist in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung, aber nach dieser Frage hat sie natürlich keine Lust, das zu erzählen. „Morden ist einfach, ein Kind
großzuziehen ist schwer“, sagt Boksoon zum Firmen-CEO Cha (Sol Kyung Gu), ihrem Chef,
alten Freund und engen Vertrauten. Deshalb möchte sie nach Ende ihrer aktuellen
Vertragslaufzeit gern aussteigen. Dieses Anliegen wird jedoch verkompliziert:
Boksoon bekommt einen Auftrag, der ihr moralisch fragwürdig erscheint, und
bricht die Regeln. Der Heroic Bloodshed beginnt: Der Spitzname „Kill“
wird zum Imperativ, Freunde müssen sich bekämpfen und die Frührente wird immer
unwahrscheinlicher, und alles nur wegen dieser verflixten
Ehrenkodizes.
Kill Boksoon behauptet nicht etwa, eine Mutter solle
keinem anspruchsvollen Beruf nachgehen. Im Gegenteil: Wenn die Chefetage über
Boksoons Ausstiegspläne spricht, wenn die männlichen Kollegen der Ansicht sind,
sie habe ihren Zenit nun überschritten, dann ist der Sexismus klar als
gesellschaftlich und strukturell markiert. Im Kampf nimmt Boksoon es mit allen
männlichen Kollegen mühelos auf, doch ihr bloßes Muttersein reicht aus, um ihren
Nutzen für die Arbeitswelt infrage zu stellen. Auch im Auftragsmordgeschäft
kann man der Misogynie
nicht entkommen. Boksoon selbst ist von Anfang an eine komplexe Figur, die sich
selbst hinterfragt. Gleich in der ersten Szene erzählt sie einem japanischen
Yakuza-Mitglied vor dem Kampf noch von einer intellektuellen Auseinandersetzung mit
ihrer Tochter. Man kann sich gut vorstellen, dass das Leben dieser Figur auch vor
Beginn der Filmhandlung schon interessant gewesen sein muss.
Neben dem narrativen hat Kill Boksoon auch einen
stilistischen Clou auf Lager: Das Innenleben der Figur bekommt eine visuelle
Entsprechung. Wenn Boksoon in einer brenzligen Situation ist, geht sie ihre
verschiedenen Handlungsmöglichkeiten im Kopf durch. Für die Zuschauenden spielt
sich das dann mit einer Videospiellogik ab, ähnlich wie etwa in Tom Tykwers Lola
rennt. Boksoon wurde enthauptet, ups, noch mal zurück zum letzten
Speicherpunkt und etwas anderes probieren. Die Frage war in diesem Fall die
nach der richtigen Waffe. Mit derselben Bedeutung wird aber die Frage nach der
Wahl des richtigen Tonfalls behandelt, wenn man das Kind aufs Rauchen
anspricht. Die Zimmertür ist zugeknallt, ups, zurück auf Los. Überhaupt sieht
der Film gut aus: Die Action ist mit einer dynamischen Kamera inszeniert, aber
ohne viele Schnitte, sodass man die Körper und die Choreografien, die sie
vollführen, immer begleitet. Häufig sind es lange Plankamerafahrten, die den
Kämpfenden folgen, auch mal über sie hinwegfliegen oder sie in einer
360-Grad-Bewegung umrunden. Das ist ein spannender Gegensatz zum Gros der
Hollywoodaction, bei der die Schnitte sich mit der Bildrate ein Rennen zu
liefern scheinen. Ausnahme: die John-Wick-Filme. Aber die haben ja, wie erwähnt, ebenfalls das
Hongkong-Kino zum Vorbild.
Wie kommt man nun raus aus dieser Plotstruktur, in der eine
Figur sich scheinbar unrettbar in die Regeln ihres
zwielichtigen Gewerbes verstrickt hat? Die Lösung ist oft, so auch im jüngsten John
Wick, eine weitere Regel. Am besten eine besonders alte – eine
Herausforderung zu einem Duell, das dann diesmal aber wirklich final sein soll,
wegen der Regeln und der Ehrenkodizes und so weiter. Auch Kill Boksoon
bedient sich zunächst dieser Plotstruktur. Ganz am Ende steht dann aber doch
nicht das Duell, sondern ein Mutter-Kind-Gespräch. Der Film schreibt damit das Heroic-Bloodshed-Genre
noch nicht neu, aber er beginnt, es zu dekonstruieren.
„Kill Boksoon“ ist bei Netflix verfügbar.