Kanada: Trudeaus Erbe ist ein lahmendes Land
Justin Trudeau, Ministerpräsident von Kanada, ist ein weiterer Regierungschef, der die Quittung für die Inflation, eine stagnierende Wirtschaft und eine verstimmte Wählerbasis bekommen hat: Er erklärte am Montag seinen Rücktritt und will auch den Vorsitz der Liberalen Partei aufgeben, sobald ein Nachfolger gefunden ist. Der soll dann in einer Übergangszeit bis zur Wahl das Land führen.
Katastrophale Umfragewerte hatten schon länger innerparteiische Kritik an Trudeau entfacht und nun seinen Rücktritt beflügelt. Nur noch 22 Prozent der Kanadier befürworten seine Politik, während 74 Prozent sie ablehnen, besagt eine frische Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Angus Reid. Was für ein Absturz für den Politiker, der 2015 als strahlender Hoffnungsträger für ein modernes, weltoffenes, progressives und feministisches Kanada das Amt antrat und danach noch zwei weitere Wahlen erfolgreich überstand. Seine Liberale Partei, die über viele Jahrzehnte hinweg an Kanadas Regierungen beteiligt war, wollen nur noch 16 Prozent der Kanadier wählen.
Reizthema Nummer eins für knapp 60 Prozent der Kanadier sind die Lebenshaltungskosten. Als belastend werden speziell die Kosten fürs Wohnen und für Lebensmittel empfunden. Die kanadische Zentralbank Bank of Canada hat zwar inzwischen die Inflation gebändigt, aber die Preise bleiben hoch. Jeder zweite Kanadier gibt an, dass es schwierig ist, den Kühlschrank mit Lebensmittel zu füllen, fanden die Meinungsforscher von Angus Reid heraus. Im März vergangenen Jahres besuchten erstmals mehr als zwei Millionen Kanadier Armenküchen, laut Food Banks Canada, der Dachorganisation für Armenspeisungseinrichtungen im Land. Das entspreche einem Anstieg von 90 Prozent binnen fünf Jahren.
Eklatanter Wohnungsmangel
Der eklatante Wohnungsmangel generell und speziell in beliebten Städten wie Vancouver oder Toronto trübt die Stimmung ebenfalls nachhaltig. Finanzanalysten von Nerdwallet ermittelten im April 2024, dass Häuser in Toronto knapp doppelt so teuer waren wie im ungefähr gleichgroßen Chicago und in Vancouver 30 Prozent über den mittleren Hauspreisen vom vergleichbaren Denver lagen, während die mittleren Einkommen in den US-amerikanischen Städten deutlich über den kanadischen lagen. Hohe Hypothekenzinsen und gewöhnlich kurze Zinsbindungen haben dazu geführt, dass viele Hausbesitzer mit deutlich höheren Kosten belastet wurden, nachdem die Zentralbank mit hohen Zinsen die Inflation zu bekämpfen begann.
Gleichzeitig hatten hohe Zuwanderungswellen die Nachfrage nach erschwinglichem Wohnraum erhöht und damit Mieten und Immobilienpreise nach oben getrieben. Unterdessen kamen das einst hochgelobte staatliche Gesundheitswesen und soziale Dienste an ihre Belastungsgrenze. Die Bürger mussten beispielsweise im Schnitt 30 Wochen auf einen Termin beim Facharzt warten. In einigen Provinzen dauerte die Wartezeit mehr als ein Jahr.
Diese Entwicklung bewog Trudeau zu einer für kanadische Verhältnisse radikalen Trendwende in der Immigrationspolitik: Statt die Einwanderung zu verstärken, wie noch 2021 laut propagiert, senkte die Regierung die jährlichen Kontingente deutlich. Das ist allerdings auch problematisch, weil gerade die Zuwanderer Kanada zuletzt vor einer Rezession bewahrt hatten. Sie füllten Lücken im Arbeitsmarkt und vergrößerten die Nachfrage.
Mit Zuwanderung Strukturproblem übertüncht
Das deutet auf ein typisch kanadisches Phänomen hin: Mit Zuwanderung konnte das Land seit Jahren Wirtschaftswachstum produzieren und damit ein Strukturproblem übertünchen: stagnierende Produktivität. Nicht nur die besonders wichtige Ölindustrie, sondern viele Branchen investieren wenig und tragen damit zum geringen Produktivitätsfortschritt bei. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Kopf des Landes ist seit der Pandemie langsamer gestiegen als das jedes anderen G-7-Landes mit einer Ausnahme: Deutschland.
Trudeaus Pech ist überdies, dass die größte Oppositionspartei, die Konservative Partei, in Pierre Poilievre einen Anführer hat, der mit Kampfeswillen, rhetorischer Disziplin und der Fähigkeit zu populistischen Zuspitzungen die Wähler in sein Lager zieht. Er hat die von Trudeaus Regierungsmehrheit eingeführte CO2-Steuer als Thema entdeckt und macht sie verantwortlich für hohe Lebenshaltungskosten und wirtschaftliche Stagnation. Immer mehr Kanadier glauben ihm und lassen sich auch nicht durch die Tatsche beschwichtigen, dass die Steuer aufkommensneutral ist: Die Haushalte bekommen das Geld zurück. Poilievre will die Wahl zu einem Referendum über die CO2-Steuer machen und bezeichnet Trudeaus prominenten Wirtschaftsberater Mark Carney (vormals Zentralbankchef in England und Kanada), der sein Gegner in den Wahlen werden könnte, notorisch als „CO2-Steuer Carney“. In der Nutzung abwertender Spitznamen für seine politischen Gegner zeigt er sich als gelehriger Schüler Trumps.
Krach mit der Finanzministerin
Trudeau versuchte zuletzt, die Zuneigung der Wähler zurückzugewinnen mit einem temporären Aussetzen der Umsatzsteuer von Mitte Dezember 2024 bis Mitte Februar 2025 für Lebensmittel, Kinderkleidung und zahlreiche Konsumgüter. Über die richtige Fiskalpolitik verkrachte sich Trudeau aber mit seiner Finanzministerin Chrystia Freeland, die das finanzielle Pulver der Regierung lieber trocken halten wollte, um gewappnet zu sein für Auseinandersetzungen mit dem südlichen Nachbarn USA. Sie trat mit einem medialen Knall zurück.
Kanadas Aussichten sind trübe. Der Internationale Währungsfonds sagt voraus, dass Kanadas Pro-Kopf-Einkommen im kommenden Jahr nur noch bei 70 Prozent jenes in den USA liegen wird. Seit 2022 hechelt Kanada den USA im Wirtschaftswachstum hinterher. Es hilft nicht, dass kanadische Privathaushalte besonders hoch verschuldet sind, im Gegenteil. Ihre Schulden liegen im Schnitt bei 180 Prozent des verfügbaren Jahreseinkommens und sind damit fast doppelt so hoch wie in Deutschland. Damit werden sie kaum in der Lage sein, etwaige Einbußen etwa beim Export auszugleichen. Diese sind zu befürchten, weil Donald Trump, der designierte Präsident der USA, 25 Prozent Zoll auf Importe aus Kanada angedroht hat. Sollten diese Wirklichkeit werden, wäre eine Rezession programmiert, sagen die Volkswirte des Analysehauses Oxford Economics voraus.
Trumps erste Reaktionen wecken in Kanada wenig Anlass zu Hoffnungen: „Die Vereinigten Staaten können die massiven Handelsdefizite und Subventionen, die Kanada braucht, um sich über Wasser zu halten, nicht länger hinnehmen. Justin Trudeau wusste das und trat zurück“, teilte Trump mit. Wenn Kanada mit den USA fusionieren würde, gäbe es keine Zölle und es wäre vor Russland und China sicher, schob er provozierend nach. Justin Trudeau wurde von Trump als „Gouverneur des großen Bundesstaates Kanada“ veralbert, als er den Amerikaner in dessen Golfresort Mar-a-Lago besuchte, um dessen Zollpläne zu entschärfen.