K-Pop: Wenn Social Media ein Kunstwerk wär

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Vor zehn Jahren erreichte Deutschland ein etwas seltsamer Tanz, der an hektische Reitbewegungen erinnerte. In der Rückschau muss man sagen: Gangnam Style war so etwas wie der Einbruch der „Koreanischen Welle“ in Deutschland. „Koreanische Welle“ oder „Hallyu“, wie es auf Koreanisch heißt, ist mittlerweile zum terminus technicus für den weltweiten Aufstieg koreanischer Popkultur geworden. Seitdem schauen deutsche Medien mal mit Befremdung, mal mit Bewunderung, mal mit Ablehnung und mitunter auch exotisierend auf Filme wie Parasite oder Minari, Serien wie Crash Landing on you oder Squid Game, Pop-Bands wie BTS oder Blackpink, Autoren wie Han Kan (Die Vegetarierin) oder Cho Nam-Joo (Kim Jiyoung, geboren 1982). Dazu kommen Kosmetikprodukte wie Tuchmasken oder BB-Cremes, Foodtrends wie Kimchi oder Bibimbap, populäre Unternehmen wie Samsung oder LG, niedliche Social-Media-Gesichtsfilter oder Gesten wie das Fingerherz – und das ist bloß die Schaumkrone der Welle. Im Wellental haben sich unterdessen koreanische Kulturproduktionen aller Art von einer großen Öffentlichkeit unbeobachtet in die Badezimmer und Küchen, Bücherregale und Spielkonsolen, auf die Fernseh- und Computerbildschirme der westlichen Welt geschlichen und sind dort zum selbstverständlichen Bestandteil des Alltags geworden. Der Aufstieg der koreanischen Unterhaltungsindustrie ist beispiellos und speziell, aber womöglich weist er den Weg in eine neue Ära der Popkultur.

Vor zehn Jahren also wurde Gangnam Style innerhalb weniger Tage zum globalen Internethit. Wer über koreanische Popkultur schreibt, kommt um Psy nicht herum. Sein bahnbrechender Erfolg gilt als Schlüsselmoment, vor allem, weil die koreanische Welle damit nicht nur in Deutschland, sondern im bisherigen Zentrum der globalen Popkultur ankam, den USA. Lange hatte die koreanische Popmusikindustrie erfolglos versucht, einen Zugang zum US-amerikanischen Musikmarkt zu finden. BoA, die in Korea, aber auch in Japan große Erfolge feierte, debütierte 2008 mit dem Song Eat You Up in den USA. Doch ihre Single floppte genauso wie die von Se7en, der nach Seo Taiji and the Boys zeitweise als „King of K-Pop“ galt. Er versuchte sein Glück 2009 mit dem englischsprachigen Titel Girls – und zusammen mit Lil‘ Kim. Die Verkaufszahlen waren aber rekordverdächtig niedrig. Psy hat damals also offenbar aus Zufall etwas geschafft, was seit Jahren forciert wurde: K-Pop auch über den ostasiatischen Raum hinaus großzumachen. Und das zu einer Zeit, in der ein Großteil des Publikums hierzulande wohl nicht viel mehr über Korea wusste, als dass es geteilt ist und wie der nordkoreanische Diktator heißt.

Die Popstarindustrie

Als Geburtsstunde des K-Pop gilt die 1992 gegründete Band Seo Taiji and the Boys. Bis zu den Protesten des Juni-Aufstandes 1987, als das Militärregime unter Chun Doo-hwan zu freien Wahlen gezwungen wurde und damit Roh Tae-woo Ende 1987 zum neuen Präsidenten gewählt werden konnte, war die südkoreanische Popmusik patriotisch oder unpolitisch. Fernsehen und Radio waren streng von der Politik reguliert. Unter Roh wurde schließlich die Pressefreiheit weitgehend gewährleistet und die Politik verlor ihre Bedeutung als größter Einflussfaktor auf die Popkultur.

Seo Taiji and the Boys gelten als Symbol der damaligen Veränderung des Kulturbetriebs. Ihre Songs waren gesellschaftskritisch und knüpften stilistisch an subkulturelle Bewegungen wie den Gangster-Rap an. Die Nähe zu Michael Jackson, der zusammen mit Madonna den Musikglobus der Achtziger- und Neunzigerjahre auf ähnliche Weise dominierte wie derzeit BTS, ist nicht zu übersehen. Auch Jackson hat sich verschiedene musikalische Genres angeeignet, und seine Choreografien hatten einen sehr hohen Stellenwert, was den K-Pop bis heute prägt.

Nachdem sich Seo Taiji and the Boys 1996 aufgelöst hatten, gründete eines seiner Mitglieder – Yang Hyun-suk – YG Entertainment. Die Unterhaltungsfirma gehört neben JYP Entertainment und SM Entertainment heute zu den sogenannten „Big 3“ der Entertainment Companies in Südkorea. SM Entertainment wurde ein Jahr zuvor von Lee Soo-man gegründet, der erst selbst Musiker war, unter Chun zensiert wurde, dann nach Amerika auswanderte und schließlich mit dem erklärten Ziel zurückkehrte, Koreas Popmusik als Exportgut zu etablieren. Als Korea zeitgleich, Ende der Neunzigerjahre, wirtschaftlich unter der Asienkrise litt, entschied man sich in der Regierung ebenfalls, in den Export von Kulturgütern zu investieren. Im Jahr 2003 gründete die koreanische Regierung unter dem damals neuen Präsidenten Roh Moo-hyun die Korea Foundation for International Cultural Exchange (KOFICE), in der Hoffnung, mithilfe der florierenden Kulturwirtschaft die nationale Wirtschaft wiederzubeleben. Durch enorm hohe Forschungsgelder, Stipendien und die Unterstützung von Forschungsinstituten und Universitäten wurde dieses Ziel in den folgenden Jahren konsequent verfolgt. Es entstanden Fakultäten mit Namen wie „Cultural Industries“, „Cinematic Contents“ oder „Digital Contents“, aus denen studierte Kulturarbeiter hervorgehen – ausgebildet die für die Arbeit an „Hallyu“-Content.

Costumized Popkultur

Ist K-Pop also eine Industrie? Oder doch ein Musikgenre? Ein Kulturphänomen? Über die Frage, was K-Pop eigentlich ist, diskutierten Fans und Forschende in den vergangenen Jahren intensiv. Klar ist, wenn von K-Pop die Rede ist, wird oft im gleichen Atemzug die dahinterstehende Industrie kritisiert – sowohl außerhalb als auch innerhalb Südkoreas. Die entertainment companies sind Agentur und Label, übernehmen die Auswahl, Produktion und den Vertrieb. Es kommt zu einer regelrechten Fabrikation von Boy- und Girlgroups: von Castings, über Ausbildung in Gesang und Tanz bis zu Trainings in Schauspielerei, Fremdsprachen und professionellen Medienaufritten. Wie sehr K-Pop als Exportprodukt angelegt ist, lässt sich auch daran erkennen, wie die entertainment companies arbeiten. Sie lassen etwa eigene Musikvideos für das Publikum in anderen Ländern drehen und passen mindestens im Refrain die Sprache an. Es entstand also eine Art „Customized Popkultur“, die durch Bands und Stars wie BoA (2000), H.O.T. (2001), Shinhwa (2003) oder TvXQ zunächst im ostasiatischen Raum sehr schnell extrem erfolgreich wurde, bevor sie dann auch den Westen erreichte.

Mittlerweile ist K-Pop tatsächlich ein global erfolgreiches Exportprodukt, wie der ehemalige Präsident Moon Jae-In 2019 in einem Interview mit dem südkoreanischen Medienunternehmen NewBC betonte: „Die von uns erstellten Inhalte machen die Welt glücklich. K-Pop und K-Drama sind immer Gesprächsthema, wenn wir ausländische Führungskräfte treffen.“

Disziplin statt wilder Rockstars

Aus europäischer Perspektive führt die mit der K-Pop-Industrie verbundene Standardisierung regelmäßig zu Befremdung, widerspricht sie doch dem Wunsch nach künstlerischer Autonomie und dem weiterhin hartnäckigen Glauben an Genialität. Die Disziplinierung, die sich darin ausdrückt, läuft dem Ideal des westlichen Popstars zuwider. Doch der Anspruch eines wilden genialischen Popstars ist in der K-Pop-Industrie tatsächlich nicht zu finden, vielmehr geht es um die Perfektion bei der Ausführung, ja die Übererfüllung von vorherrschenden Standards. Auch das Militärische, das in der Disziplinierung der Körper der idols, wie sie genannt werden, ihrem uniformierten Auftreten, und der Exaktheit der Performance zum Ausdruck kommt, widerspricht der hierzulande dominierenden Forderung nach Authentizität und Gegenkulturalität. Doch während das Feuilleton fremdelt, stößt die K-Pop-Kultur global auf viel Zuspruch.

Wer sich wundert, warum K-Pop so erfolgreich ist, sollte sich das Verhältnis der Fans zu ihren idols ansehen. Wurden Fans in der westlichen Popkultur bislang oft als Menschen beschmunzelt, die ihrem Star verfallen sind und seine Werke passiv konsumieren, besitzen die Fans von K-Pop oft ein ausgeprägtes Selbstverständnis als aktiv Mitwirkende am Erfolg ihrer idols. So wenig K-Pop hierzulande in den klassischen Medien vertreten ist, so sehr sorgen die Fans dafür, dass koreanische Popkultur vermittelt wird. Soompi und allkpop sind Onlinefanseiten, die massenhaft Informationen, Klatsch und Tratsch, Rezensionen, Gerüchte, Kommentare und Videos bereitstellen. Sie betreiben eigene Newsrooms, eigene Galerien, Foren, Shops und sogar Musikcharts. Auf Streamingseiten wie Viki übersetzen Fans die neuesten Dramen und Filme und sorgen so für Barrierefreiheit und Zugänglichkeit. 

Fans von K-Pop Idols sind gewissermaßen eine Institution, sie sammeln Geld ein, zum Beispiel damit ihr Star am Filmset mit einem eigenen personalisierten Foodtruck versorgt wird. Sie überhäufen sie mit Geschenken und sorgen für hohe Klickzahlen, um die Konkurrenz zu überbieten. Und sie werden auch schon mal politisch. In bester Erinnerung dürfte eine Wahlkampfveranstaltung von Donald Trump im Juni 2020 geblieben sein, die dank K-Pop-Fans zum Fiasko wurde. Sie hatten sich in den sozialen Medien organisiert, massenhaft Tickets bestellt und waren dann nicht hingegangen – aus Protest gegen Trumps Drohung, TikTok in den USA zu sperren. Hier ist eine Fankultur entstanden, die sich nicht auf eine wirkungslose subjektive Bewunderung der Idole reduzieren lässt, sondern extrem aktiv ist. Die Abhängigkeit von ihren Fans, die das auch bei den idols produziert, wird wiederum gerne in sogenannten Idol-Dramen thematisiert.

Klassismus ist ein allgegenwärtiges Thema

Auch inhaltlich gibt es große Unterschiede zu westlichen Gewohnheiten. Motive, mit denen in amerikanischen oder europäischen Serien oft gebrochen wird, gelangen in K-Dramen zu besonderer Geltung: traditionelle Werte wie Loyalität, Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit, Respekt und Höflichkeit. Der Zusammenhang von individueller, familiärer und gesellschaftlicher Verantwortung wird in den meisten K-Serien mindestens subtil thematisiert. Gibt es gesellschaftliche Probleme, muss jeder an deren Behebung mitwirken. Mit welchen Herausforderungen diese Aufgabe verbunden ist, wo sie als Last und Zumutung beziehungsweise wo sie als glücksstiftend und heilbringend erfahren wird, zeigen K-Dramen in großer Ausführlichkeit. Jüngst etwa in der von Netflix ausgestrahlten Serie Forecasting Love and Weather, die in einer meteorologischen Behörde spielt und vor allem klimapolitische Fragen anschaulich machen soll. Individuelle Erfahrungen im Leben der Protagonisten beeinflussen Entscheidungen, die weitreichende Folgen haben können. In jeder Folge wird aufs Neue gezeigt, dass, sosehr sich etwas der eigenen Einflussnahme entziehen mag, immer Verantwortung für eine Gemeinschaft übernommen werden muss.

Viele K-Dramen sind populärkulturelle Märchen. Ihre verantwortungsbewussten, ehrbaren Helden verkörpern „das Gute“, das sich dem „Bösen“ stellen muss. In Itaewon Class muss sich der vom Schicksal gezeichnete Park Seo-joon gegenüber dem CEO eines Lebensmittel-Chaebols (familiengeführte Großunternehmen) behaupten. In Crash Landing on you kämpft Ri Jeong-hyeok gegen sämtliche Instanzen des korrumpierten nordkoreanischen Militärs. Sie sollen Vorbilder liefern und anschaulich machen, welches Verhalten erwünscht und welches abgelehnt wird. Obwohl sich das für postmodern sozialisierte Ohren nach Kitsch anhören mag, kann man die Popularität des Genres doch auch als Ausdruck einer durch die multiplen Krisen der Gegenwart hervorgegangenen Sehnsucht nach Eindeutigkeit, gutem Willen und Gemeinschaftlichkeit ansehen.

Bei aller Märchenhaftigkeit sind K-Dramen dennoch gesellschaftskritisch. Zwar bleibt die Thematisierung von Diversität, Rassismus oder die explizite Infragestellung patriarchaler Grundstrukturen oft noch ausgespart, aber Klassismus ist bekanntlich ein allgegenwärtiges Thema. Sie treffen damit ebenso den westlichen Nerv, wie die (wenn auch noch zögerliche) Kritik an den engen Schönheitsidealen.

Mash-ups und Aneignung

So wie es Hollywood nicht ohne das Kino gegeben hätte, wäre die koreanische Welle ohne die sozialen Medien nicht denkbar. Es brauchte digitale Plattformen, damit sich Fans vernetzen konnten, auf denen Rezipienten selbst entscheiden und mitgestalten, was sie gerne lesen, hören und sehen möchten. Aber auch inhaltlich scheint K-Pop dem Geist sozialer Medien entsprungen zu sein. Viele Musikvideos zeichnen sich zum Beispiel durch extreme Referenzialität und kulturelle Hybridität aus: Da können „Safari“-Muster schon mal auf griechische Architektur treffen, Hip-Hop auf Techno und Jazz. Selbst ideologisch ist K-Pop ein Potpourri. Im BTS-Hit DNA wird zum Beispiel die Freude über eine geglückte Beziehung besungen und mögliche Gründe aufgezählt, wie es zu diesem Happy End kommen konnte – darunter „Schicksal“, „Religion“, „Mathematik“ oder eben die „DNA“. Das ist auf eine Art unpolitisch, die einerseits befreiend wirken kann: Da das Mash-up so dicht ist und die formale Aneignung so oberflächlich (im positiven Sinne!), werden die einzelnen kulturellen Referenzen von ihren jeweiligen Hintergründen gewissermaßen entlastet. Andererseits bieten sie aber auch viel Fläche und Material, das man sich aneignen, ja sogar für eigene Zwecke instrumentalisieren kann. So sind männliche K-Pop-Idols etwa zu Ikonen der westlichen LGBTQ+-Community geworden – zunächst ohne dies eigens anzustreben. Einfach deshalb, weil ihr Aussehen diese Lesart zulässt.

In alle Richtungen anschlussfähig zu sein ist im Zeitalter sozialer Medien deshalb so attraktiv, weil sich dadurch unterschiedliche Rezipienten das popkulturelle Artefakt individuell zu eignen machen können, ja sich vor dessen Hintergrund selbst inszenieren können. Dadurch ist eine partizipative Popkulturindustrie entstanden, von deren wirtschaftlichen Erfolg längst nicht mehr nur die Stars profitieren. Lange vor TikTok haben Fans die Choreografien ihrer idols nachgetanzt und zu Commmunity-internen Memes werden lassen. Mittlerweile erreichen K-Pop-Fans teilweise genauso große Popularität wie so manch ein Idol. Das chinesisch-amerikanische Paar Ellen und Brian haben zum Beispiel mit ihren Choreografiecoverversionen von Blackpink, BTS oder aespa auf YouTube bereits über 3 Millionen Follower.

Längst gilt das Interesse der Fans also nicht mehr ausschließlich den Stars, deren Geschichten und Identitäten – sondern dem Ausleben und Gestalten ihrer eigenen. Das ist es, was die koreanische Welle über die sozialen Medien weltweit erfolgreich gemacht hat: Sie verlagert die Einzigartigkeit und Autonomie einzelner Künstler auf eine Vielzahl kreativer Rezipienten.