Jugendbuch von Jenny Valentine: So ungeheuer wertvoll ist es, dies bloße Sein!

Mab sieht schlimm aus. Unter ihrer Haut schimmern Asphaltsplitter, ihr linker Arm hängt schlaff herunter, und der Riss im Kleid ist so tief, dass er bis zu den Knochen reicht. Und sie hat schrecklichen Hunger. Schließlich hat sie seit dem tödlichen Unfall nichts mehr gegessen. Aber wie auch, als Geist?

Das Leben ist ein anderes seit dem Unfall, für alle. Als hätte dieser kurze Moment, in dem das Auto auf die beiden Mädchen zuraste und eines von ihnen tötete, die Zeit in ein Davor und ein Danach geteilt. „Zwei Seiten eines Augenblicks“ spielt in beiden Welten. Es ist das neueste Jugendbuch der mehrfach ausgezeichneten britischen Autorin Jenny Valentine und erzählt die Geschichte von Mab und Elk. Die beiden sind beste Freundinnen, 16 Jahre alt und unzertrennlich. Im Wortsinn.

Eindrücklich beschreibt Valentine den Moment, in dem Mab in Elks Leben trat: Kurz bevor sie in die siebte Klasse kam, half sie ihr, den Weg aus einem Labyrinth zu finden. Diese Begegnung war nicht weniger als lebensverändernd für Elk. Schlagartig fühlte sie sich wohl in der Freundschaft und wird seither nicht müde, ihr Glück, eine so tolle Freundin gefunden haben, zu betonen – ohne dass es je forciert wirkt. Sind es doch die kleinen Dinge, die Mab für Elk so toll machen: ihre Art, die Welt anders zu sehen – wie lässt sich am besten in der Zeit reisen und ob Babys wohl träumen? –, ihre Loyalität und Liebe zu Elk, ihre Lebenslust und ihre Vorfreude auf jeden neuen Tag. Und doch beginnt die Geschichte auf dem Friedhof.

Wie absurd, dass sich die Welt einfach weiterdreht

Valentine erzählt wider die Zeit, was die Geschehnisse paradoxerweise unheimlich nachvollziehbar macht. Schließlich folgt Trauer auch keiner Chronologie, sondern springt zwischen Erinnerungen und Gegenwart, flüchtet sich in Vergangenes, während die Welt sich längst weiterdreht. Und so ergeht es auch Elk. Mal ist sie im Davor, mal im Danach – dort allerdings immer in Begleitung von Mabs Geist. Allein Elk kann ihn sehen, und wenn sie miteinander sprechen, hört es niemand anderes. Ein bisschen wirkt es manchmal, als wären sie nicht Teil der Realität, sondern außenstehende Kommentatoren.

Jenny Valentine: „Zwei Seiten eines Augenblicks“. Roman. Aus dem Englischen von Klaus Fritz. Dtv, München 2025. 192 S., br., 16,– €. Ab 14 J.
Jenny Valentine: „Zwei Seiten eines Augenblicks“. Roman. Aus dem Englischen von Klaus Fritz. Dtv, München 2025. 192 S., br., 16,– €. Ab 14 J.Verlag

Denn anders als Elk scheint ihre Familie einfach weiterzuleben: Cornflakes essen, zur Arbeit gehen, von Zeit zu Zeit den Friedhof besuchen. Doch dass ihre Mutter weniger lacht als im Davor und ihr kleiner Bruder sich fragt, wo Tote eigentlich hingehen, verrät, dass auch sie im Danach angekommen sind – einer Sphäre, die das Davor imitiert und für Elk doch so unwirklich, so ungreifbar bleibt. Sie ist, wie Valentine es einmal schön beschreibt, geprägt vom seltsamen „Vorwärtsdrang einer Welt, die an Verluste in industriellem Maß gewöhnt ist“. Elk empfindet das gegenüber den Verstorbenen als beleidigend. Und dadurch, dass Valentine ebenjenen Vorwärtsdrang aus der Perspektive zweier Mädchen beschreibt, deren Welt mit dem Unfall stehen geblieben ist, ja stehen bleiben musste, ist man schnell geneigt, ihr zuzustimmen. Wie absurd, dass Angehörige ihr Leben im Danach fortsetzen – dass es überhaupt ein Danach geben kann!

Ihr, die ihr das lest, könnt all das noch haben!

So liegt also durchaus ein gewisser Surrealismus in den Momenten, die Elk im Danach verbringt. Zum Glück hat sie ja Mab, die sie ablenkt und mit ihr über das Verhalten ihrer Familie oder die Schuld des Autofahrers diskutiert. Mab ist „netzgardinendünn“, ein Schleier ihrer selbst, sonst aber genauso lustig wie davor, immer ein bisschen frecher und wilder als Elk. Man begleitet die beiden bei – ja, was eigentlich? Einmal gehen sie zu Elks Therapiestunde, die sie damals begonnen hatte, nachdem ihre geliebte Oma an Altersdemenz gestorben war. Und Trauerbewältigung, das passe ja jetzt ganz gut, erklärt Elk ihrer Freundin vorab. Auch die Beerdigung besuchen die beiden, dann wieder sitzen sie mit Elks Familie am Frühstückstisch oder liegen in ihrem Kinderzimmer und versuchen zu dechiffrieren, warum denn niemand mal Elk fragt, wie es ihr geht. Eigentlich aber beobachten wir sie vor allem beim Sein.

Und wie ungeheuer wertvoll das ist, das bloße Sein, wird immer wieder deutlich an den Sehnsüchten, die Mab ausspricht, und an den Eindrücken, die zunehmend auch Elk wahrnimmt. Es sind Kleinigkeiten: der Geschmack frischer Erdbeeren oder Sand, der nach Seegras und Muschelschalen riecht. Die Geräusche des Morgenverkehrs oder die Augen von Elks kleinem Bruder, in denen man schwimmen könnte vor lauter stillen Tiefen. All diese Beobachtungen, die Valentine so greifend nah vermittelt, fallen den beiden erst im Danach richtig auf. „Wenn ich noch einmal von vorn anfangen dürfte, würde ich es richtig machen. Ich würde sichergehen, dass ich voll und ganz lebe, das ist alles“, sagt Mabs Geist und spricht damit ganz deutlich jene Botschaft aus, die im Laufe der Geschichte immer wieder leise durchdringt: Ihr, die ihr das lest, könnt all das noch haben.

Es sind die großen Fragen der Trauer, denen sich Valentine widmet

Eine Sehnsucht jedoch gibt es, die nur Elk kennt. Nämlich Frances, Mabs älteren Bruder, der nicht nur sanftmütig und ruhig ist, sondern auch Elks Liebe zur Physik teilt. Ihre behutsame Annäherung erzählt Valentine – gerade weil Elk nur noch auf sie zurückblicken kann – so warm und wehmütig, dass man bald schon gemeinsam mit Elk hofft, ihm im Danach wieder zu begegnen. Doch Frances scheint plötzlich unerreichbar. Und Elk verharrt gemeinsam mit Mabs Geist im scheinbar endlosen Dazwischen. Gibt es daraus einen Ausweg? Und wollen die beiden Freundinnen ihn überhaupt finden?

„Ich kann das nicht ewig machen, Elk“, sagt Mabs Geist nach der Beerdigung, als würde sie langsam müde werden von der Zwischensphäre, in der die beiden festhängen. Und damit bahnt sich langsam eine Wende an, die Spannung in die sonst sehr ruhige Handlung hereinbringt und sie gleichzeitig noch tiefer, noch klüger und noch wärmer werden lässt. Knapp 200 Seiten sind es, die Klaus Fritz von Valen­tine ins Deutsche übersetzt hat, es fühlt sich im besten Sinne nach doppelt so vielen an.

Denn Valentine ist zum einen eine Geschichte gelungen über die unbändige Stärke und Stütze, die Freundschaften bis über den Tod hinaus geben können. Gleichzeitig hat sie eine Hymne an das Leben geschrieben. Eine, die gar keine Wege aus der Trauer aufzeigen will, sondern Wege mit ihr. Und eine, die zeigt, dass Menschen, die man liebt, einen nie ganz verlassen.

Es sind die großen Fragen der Trauer, denen sich Valentine widmet und auf die sie – zum Glück – keine absoluten Antworten findet. Wo hat Trauer im Alltag des Danachs ihren Platz? Wie nimmt man Abschied? Wann lässt man los? Dass das in all der Kontrolllosigkeit und Überwältigung, die der Verlust geliebter Menschen mit sich bringt, doch friedlich und erst dann passiert, wenn Elk bereit ist, ist nur eine der schönen kleinen Botschaften, die sich in Valentines Geschichte verstecken.

Jenny Valentine: „Zwei Seiten eines Augenblicks“. Roman. Aus dem Englischen von Klaus Fritz. Dtv, München 2025. 192 S., br., 16,– €. Ab 14 J.

Source: faz.net