Judith Hermann: Woher ihr Schweigen kam

Sie hat das dann einfach gemacht. Hat sich Turnschuhe angezogen, um stabilen Halt zu haben, vielleicht auch, um notfalls schnell davonlaufen zu können, ist in diesen Saal der Universität Frankfurt gegangen, hat sich vor das Publikum gesetzt und sich selbst erzählt. Hat ihr Leben erzählt, die Geschichte ihrer Herkunft, die Geheimnisse ihrer Familie, die Schrecken ihrer Kindheit, ihre Traumata. Die Herkunft ihres Schweigens, das jetzt enden soll.

Judith Hermann, die seit dem Erscheinen ihres ersten Erzählbandes Sommerhaus, später vor 25 Jahren „Stimme ihrer Generation“ genannt wurde – was von Anfang an ein bisschen komisch war, weil in ihren Geschichten ja immer wahnsinnig viel geschwiegen wird –, hat im letzten Jahr, im Rahmen der Frankfurter Poetikdozentur, die Truhen ihres Schweigens geöffnet und ist selbst ins Offene getreten. Ins Freie. Ein ziemlich verrückter, wagemutiger Schritt. Denn war das Geheimnis nicht stets der Kern ihrer Kunst? Öffnete nicht genau die Stille, die ihre Figuren umgab, den Möglichkeitsraum, den die Leser mit ihrem eigenen Leben, ihren eigenen Erfahrungen füllten? Und plötzlich schließt sie diesen Möglichkeitsraum, indem sie ihn mit ihrer eigenen Wirklichkeit füllt, ihrem Leben. Warum?