Jubiläum | Erkenntnis und Interesse als Lifestyle: 50 Jahre suhrkamp taschenbuch wissenschaft
Zu den wichtigsten Instrumenten der inneren Demokratisierung einer Gesellschaft gehört die Balance zwischen der Vertiefung und Verbreitung des Wissens. Ein verbreitetes Wissen ohne Vertiefung (das heißt auch: ohne seine ständige Kritik) tendiert dazu, dogmatisch und ideologisch zu erstarren; ein vertieftes Wissen ohne Verbreitung (ohne Zugang für alle) tendiert zum Experten- und Geheimwissen. Im zu Ende gehenden Gutenberg-Zeitalter waren es vor allem gedruckte Erzeugnisse, Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, die für eine Verbreitung des Wissens sorgten. Sie taten das indes nie auf eine allgemeine und rein diskursive Art. Presseerzeugnisse, Bibliotheken und schließlich Buchreihen verbreiten Wissen immer auch als Identifikation, nicht nur, wenn sie sich an das traditionelle Bildungsbürgertum richten, das sich mit seinem Wissen sowohl gegen unten wie gegen oben, gegen die Barbarei des Unwissens und gegen die Dekadenz des „unnützen Wissens“, abgrenzen will. Während es verbreitet wird, konstruiert das Wissen durch seine Ästhetik einen sozialen und kulturellen Ort; dasselbe Buch liest sich anders, je nachdem, ob es sich in einer Reclam-Ausgabe (nicht nur) für den Gebrauch an einer „höheren Schule“ oder in einem schmuckvollen Lederband offenbart, und eine private Bibliothek, ob in Nussbaumschränken, Ikea-Regalen oder Obstkisten, ist nicht nur ein persönliches Archiv des Wissens, sondern auch ein soziales Bild, Beeindruckung und Selbstbeeindruckung.
Nun ist das Wissen, selbst in Teilbereichen wie, sagen wir, den Geisteswissenschaften oder den Sozialwissenschaften, so umfangreich, widersprüchlich und mehr oder weniger chaotisch, dass es der Begleitung, des Kuratierens und der Ordnungen bedarf. Es helfen große Namen, programmatisch aufgestellte Verlagshäuser, ästhetische Erscheinung, Distributionsmittel – einst unterschieden sich die Abonnenten des Bertelsmann-Buchclubs so sehr von denen der Büchergilde Gutenberg wie diese von denen der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft – und es helfen, spätestens mit dem Produktionsschub der „Paperback-Revolution“, Buchreihen.
rowohlts deutsche enzyklopädie und die „zweite Aufklärung“
Die emblematische Buchreihe zur Verbreitung und Demokratisierung von Wissen war die ab 1955 von Ernesto Grassi herausgegebene rowohlts deutsche enzyklopädie (rde), und ihr Motto war die „zweite Aufklärung“. Das primäre Merkmal der Demokratisierung war hier natürlich der Preis. Doch man konnte sich als ökonomisch Nicht-Privilegierter einen Band der Deutschen Enzyklopädie nicht nur leisten, man konnte auch vergleichsweise sicher sein, was man bekam. Eine strenge Ordnung einerseits – das obligatorische „enzyklopädische Stichwort“, einen klar gegliederten Text, eine biografische Unterstützung zur Imagination von Autor*innen –, aber mehr noch auch eine Haltung im Wissen und zum Wissen. In dieser Enzyklopädie näherte man sich, manchmal zaghaft und retardiert, der neuen Moderne an, knüpfte aber auch betont an die klassische Moderne an. Programmatisch vielleicht dafür der Titel von Grassis Vorgängerprojekt, die zwischen 1945 und 1951 in der Schweiz herausgegebene Sammlung Überlieferung und Auftrag. Schwer tat man sich indes mit allem, was den Bruch durch Faschismus und Krieg anbelangt. Und so war die rde nicht nur ein Medium der Verbreitung, sondern auch ein Filter des Wissens. Freilich, je länger die rde existierte, desto mehr musste ihr Gründer und Herausgeber auch Texte akzeptieren, die seinem eher konservativen wissenschaftspolitischen Interesse nicht ganz entsprachen, Texte etwa von Louis Althusser oder Ulrich Beck zu Beginn der 80er-Jahre.
George Steiner nannte es die „Suhrkamp-Kultur“
Aber zu dieser Zeit hatte sich als Gegengewicht zur rde als Selbstvergewisserung und diskursive Basis des neuen (west-)deutschen Bürgertums schon gebildet, was George Steiner so öffentlichkeitswirksam die „Suhrkamp-Kultur“ genannt hatte. Und neben der regenbogenbunten Edition suhrkamp (es) hatte sich seit 1973 die stw-Reihe mit ihrer mehr oder weniger schwarzen Grundfarbe und ihren kreidebunten Titeltexten als neue demokratische Wissensmaschine etabliert. Der erste Band der Reihe war vor 50 Jahren, durchaus programmatisch, Jürgen Habermas’ Erkenntnis und Interesse, und neben einigen neu entdeckten Klassikern (eine Hegel-Gesamtausgabe, Norbert Elias’ Prozess der Zivilisation, Karl Polanyis The Great Transformation und anderen) waren es mehrheitlich Erstausgaben, die hier publiziert wurden. Während die rde – zumindest in der Zeit ihres enormen ökonomischen und kulturellen Erfolges – einen Anschluss an die Moderne ohne Bewusstsein des Bruchs versprach, schien die stw-Reihe gerade umgekehrt aus der Erkenntnis dieses Bruchs entstanden oder, um es mit den Worten von George Steiner zu sagen: Es ging darum, „die deutschen Bücherregale mit der Gegenwart jener deutsch-jüdischen intellektuellen uns stimulierenden Kraft zu erfüllen, welche der Nazismus auslöschen wollte“.
Leser*innen der stw-Bände hätten sich also sicher ungern nachsagen lassen, zum „Bildungsbürgertum“ zu gehören. Sie sahen sich vielmehr als Vertreter*innen einer neuen, kritischen und offenen Generation, die sich gern auf Methodenvielfalt und Widersprüche einlassen. Die Auseinandersetzung mit dem Werk soll in einer möglichst direkten und freien Art geschehen, nichts mehr von dem „betreuten“ und „formatierten“ Lesen bei der rde. In der äußeren Erscheinung gibt es dafür einen einfachen Trick: Autor*innen-Name und Buchtitel sind gleich groß auf dem Titel; Werk und Autor*in sind buchstäblich gleichbedeutend. Auch was den Umfang eines Werkes betrifft, liegt die Autonomie bei der ursprünglichen wissenschaftlichen Arbeit, und so gibt es neben schmalen Essay-Bänden auch echte „Ziegelsteine“. Etwas sehr Solides gegen die Zumutungen der Welt.
Die Verknüpfung von Theorie und Praxis als Marketing-Gag, nun ja
Dass man sich, bei aller Vielfalt, dann doch wieder in einem diskursiven Subsystem, in einer Spiegelwelt des Wissens befindet, in dem Identität (als versteinerte Form des Interesses vielleicht) mindestens so wichtig ist wie Erkenntnis, zeigt sich spätestens in der Merchandising-Kampagne zum Jubiläum: Zu den identitätsstiftenden Accessoires gehört zum Beispiel eine Baseball-Cap (16 €) mit dem Reihen-Logo, die wie folgt beworben wird: „Ob Sie Ihre Dissertation im Hörsaal verteidigen oder die Demokratie auf der Straße: mit der suhrkamp kappe wissenschaft sind Sie immer richtig angezogen“. Die Verknüpfung von Campus und Straße (Theorie und Praxis) als Marketing-Gag, nun ja. Weiter geht es mit einem Puzzle (1.000 Teile, das ist man sich schuldig, für 19,95 €), einem Notizbuch (6 €) und einem praktischen Stoffbeutel (16 €). Gewiss könnte man ein wenig hämisch darauf reagieren, wie hier aus Erkenntnis und Interesse ein Lifestyle werden soll, und aus einer Strategie des Wissens ein Warenzeichen – Roland Barthes hätte seine helle Freude an solcher Produktion von Mythen des post-bildungsbürgerlichen Alltags gehabt.
Die als Sonderausgaben für das Jubiläum ausgesuchten Bände versprechen indes viel mehr „wildes Denken“ und Widerspruch, als sie enthalten. Denn hinter poetischen Titeln wie Im Dickicht der Zeichen soll dann doch wieder eine „konzentrierte Einführung“ (in die Semiotik von Aleida Assmann) stecken, und Karin Knorr Cetinas Die Fabrikation von Erkenntnis muss sogleich zum „Klassiker der Wissenschaftssoziologie“ erklärt werden. Auch Eva Illouz’ Gefühle im Zeitalter des Kapitalismus wirdals „zum Klassiker gewordenes Buch“ gepriesen, Martina Löws Raumsoziologie wiederum zum „Standardwerk“ erklärt. In alledem und schließlich im Konzept der stw selbst steckt ein Grundwiderspruch zwischen dem konservativen (bis lähmenden) Wissenschaftsbetrieb, der ständig nach dem Abschließenden und Standardisierenden verlangt, und der Hoffnung auf Grenzüberschreitung und irgend riskantes Denken. Einzelnen Autor*innen gelingt es immer wieder einmal, diesen vermaledeiten Widerspruch zu überwinden, und manche davon sind in der stw-Reihe auch vertreten, aber die Reihe als Ganzes zeigt, dass wir in der Sackgasse der, sagen wir, dritten Aufklärung stecken. Das Wissen soll zugleich freigesetzt und eingehegt werden, es soll poetisch nach außen strahlen und methodisch im Inneren gebunden bleiben. Es soll nicht autoritär sein und zugleich den Autorenstatus als Autorität untermauern.
Vielleicht kann man den Erfolg der stw-Reihe nur vor dem Scheitern eines anderen Projektes aus der Suhrkamp-Kultur-Maschine verstehen, der Reihe Suhrkamp Theorie, die es von 1966 bis 1986 auf rund 200 Bände brachte. Zwar finden wir in dieser Reihe viele Namen, die auch in der stw aufscheinen, aber offensichtlich geht es dabei um einen ganz anderen, strengeren Ansatz. Um eine Verpflichtung, einen Anspruch auf soziale Praxis, die ein allgemein „wissenschaftliches“ Taschenbuch nicht hat. Mit einem Ziegelstein der stw kann man es sich durchaus gemütlich machen, bei „Theorie“ denkt der postmoderne Kleinbürger sogleich an Aufruhr.
Ein vergiftetes Lob der „NZZ“
Es ging in der Geschichte der demokratischen (aber eben immer auch marktförmigen) Vermittlung von Wissen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, wenn ich mich nicht irre, um die Verwandlung von Wissen in Bewusstsein, von Bewusstsein in Kritik und von Kritik in politische und soziale Praxis. Nur kann das fatalerweise auch genau anders herum ablaufen. Und dabei spielt auch die Art der Vermittlung eine Rolle. Darin wird die Vermittlung zur Ästhetik und die Ästhetik zur Ware. Zu ihrem Jubiläum zitiert der Verlag einen Satz aus der Neuen Zürcher Zeitung, nach dem es „die historische Leistung der ‚stw‘ ist, anspruchsvoller theoretischer Reflexion zu wissenschaftlicher Normalität verholfen zu haben“. Vielleicht ist man sich gar nicht im Klaren, wie vergiftet dieses Lob ist. Denn wie die Dinge stehen, wäre vieles von der Vermittlung von Wissen als Medium der inneren Demokratisierung zu erhoffen. „Wissenschaftliche Normalität“ gehört gewiss nicht dazu.