John R. Searle: Sie nannten ihn Cowboy

Was ist Sprache? Warum sprechen wir überhaupt, und was bezwecken
wir damit? Das sind Fragen, die zu den ältesten der Philosophie gehören, und
über Jahrtausende hinweg wurden sie etwa wie folgt beantwortet: Sprache dient
dazu, die Wirklichkeit in Worte zu fassen. Sie ist dazu da, Ideen wiederzugeben
oder auch Tatsachen in der realen Welt zu bezeichnen. Im Kern der
Sprachphilosophie stand darum wesentlich stets die Lehre von der Bedeutung: die
Semantik.

Aber dieser Sprachbegriff greift zu kurz, viel zu kurz – mit
dieser These betrat der Philosoph John R. Searle in den Sechzigerjahren die
Bühne. Für ihn war es nicht weniger als ein „Skandal“, dass die
Sprachphilosophie über 2.500 Jahre hinweg übersehen hatte, worum es beim
Sprechen in Wirklichkeit geht. Nicht darum, so Searle, die Wirklichkeit
abzubilden, sondern darum, die Wirklichkeit zu beeinflussen. Wenn wir sprechen,
dann handeln wir, um etwas zu erreichen. Ins Zentrum der Sprachphilosophie
gehöre darum die Lehre vom Gebrauch der Sprache: die Pragmatik.

John R. Searle war nicht der Erste, der diesen pragmatic turn in der Sprachphilosophie vollzog, aber er war fraglos der lauteste und
einflussreichste; neben einem scharfen analytischen Geist gehörte stets auch
ein solides Selbst- und Sendungsbewusstsein zu seinen Qualitäten. Geboren wurde
er 1932 in Denver im US-Bundesstaat Colorado. Sein Studium der Philosophie absolvierte er zu
großen Teilen in Oxford, 1959 wurde er mit einer Arbeit über Bedeutungstheorie
promoviert und bald darauf, mit nicht einmal 30 Jahren, als Professor an die
University of California in Berkeley berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung
blieb.

In Oxford hatte er die Vorlesungen von John L. Austin gehört,
die 1962 posthum unter dem Titel How to Do Things with Words erschienen.
Darin entwarf Austin eine Theorie der Sprechakte, also der Handlungen, die
man mit Sprache und beim Sprechen vollzieht. Searle übernahm den Gedanken und
die zentrale These von Austin – „by saying something, we do something“ – und entwarf auf dieser
Grundlage eine ganze Typologie von Sprachhandlungen. In der Sprechakttheorie,
seinem ersten Hauptwerk aus dem Jahr 1969, führte er aus: Mit einem Satz, den
man äußert, kann man Objekte in der Welt beschreiben (propositional), man kann
eine Behauptung aufstellen, einen Befehl, eine Warnung oder eine Drohung
aussprechen (illokutionär) und man kann damit wiederum eine Wirkung erzielen,
jemanden überzeugen, einschüchtern, verstören (perlokutionär).

Unsere Realität, sein Regelsystem

Und damit ging es in der Sprechakttheorie erst los, auf dieser
Grundlage entfaltete Searle in seinem Buch eine komplexe Taxonomie von
Klassifikationen und Regeln, so ordnete er etwa auch die Gelingensbedingungen von Sprechakten zu einer Tabelle. Es gehörte stets zu seiner Philosophie und
seinem Auftreten als Philosoph, dass er einerseits anderen Philosophen gern
vorwarf, dass sie die Komplexität der Sprache und der Realität nicht erfassen und dass er andererseits völlig selbstverständlich davon ausging, dass die
Realität restlos in jenen Regelsystemen aufging, die er in seinen eigenen
Studien aufstellte. Sein Glaube an die unbedingte Repräsentierbarkeit der Welt
war unerschütterlich, das verband ihn mit den strukturalistischen, man könnte
auch sagen: technokratischen Sprachwissenschaftlern seiner Generation wie Noam Chomsky. Und das trennte ihn von den Denkern der Postmoderne wie Jacques Derrida, für die es zu den wesentlichen philosophischen Erkenntnissen
gehörte, dass sich die Sprache und die Welt eben nicht restlos durch
Klassifikationen beschreiben lassen.

Wobei Searle in einer wesentlichen Hinsicht eben doch ein
postmoderner Denker war: in seiner Überzeugung, dass man mit Sprache die
Realität nicht nur abbildet, sondern eben auch verändern kann. Sprache war für
ihn ein Instrument zur Erschaffung von Realität, der Gebrauch der Sprache hatte
für ihn eine moralische Qualität. Während der Studentenproteste Ende der Sechzigerjahre gehörte er zu den entschiedensten Protagonisten des Free Speech
Movement. Später widmete er sich der Frage: Wie wir die soziale Welt machen:
Die Struktur der menschlichen Zivilisation
(2010). Wenn man den
wirklichkeitserschaffenden Charakter der Sprache anerkennt, dann ist es von
dort nur noch ein Schritt zu der These, dass Institutionen, die durch
sprachliches Handeln erschaffen werden und von diesem ihre Verbindlichkeit
erhalten, ebenso real sind wie die Welt der physischen Dinge. In seinen
späteren Büchern gehörte es zu den erklärten Zielen von Searle, die
philosophische Ontologie, also die Lehre vom Seienden, konsequent auf das Soziale
auszudehnen.

Tatsächlich war sein Denken unerhört einflussreich. Jürgen
Habermas
entwickelte aus Searles Theorie des sprachlichen Handelns Anfang der
Achtzigerjahre seine Theorie des kommunikativen Handelns. Darin übernahm er
Searles Grundgedanken und wandte gleichwohl gegen ihn ein, dass der
Handlungscharakter der Sprache nicht im subjektiven Gebrauch zu suchen sei,
sondern in der intersubjektiven Kommunikation. Mit Michel Foucault, der in den
Siebzigerjahren ebenfalls in Berkeley lehrte, verband Searle eine Freundschaft,
die über das Akademische hinausging. Wenn Foucault die
wirklichkeitserschaffende Kraft von Diskursen untersuchte, dann merkte man
auch daran die Inspiration durch Searle. Und die junge Judith Butler
schließlich entlieh in ihren ersten Schriften in den Achtzigerjahren bei Searle
die Analyse des performativen Charakters von Sprache und entwickelte daraus die
Idee, dass auch geschlechtliche Identität durch performative Akte erzeugt wird.

John R. Searle war ein Denker, der in viele Richtungen strahlte; er war ein grandioser Lehrer und Redner. Er war eine Erscheinung mit seinem
breiten amerikanischen Akzent und seinem breitbeinigen Auftreten. Unter
Kollegen wurde er gern Cowboy oder John Wayne genannt, und manches
Auditorium auf Philosophiekongressen wurde von ihm aus dem Dämmerschlaf
gerissen. Wie die American Philosophical Association gestern mitteilte, ist
John R. Searle bereits am 17. September im Alter von 93 Jahren gestorben.