Joachim Kersten: Mit Paragrafen für die Musen
In der deutschen Buch- und Medienlandschaft, soweit sie nur irgendeinen schöngeistigen Bezug hat, gibt es gewiss niemanden, der Joachim Kersten nicht kannte. Erst recht im Hamburger Kulturleben führte kein Weg an diesem literarisch geradezu monströs gebildeten Anwalt vorbei, jedenfalls akustisch nicht. Sein Lachen, aus den hintersten Winkeln einer Party oder eines Saales weithin vernehmbar, wird ihn, der jetzt mit 76 Jahren starb, in der Erinnerung aller um Jahrzehnte überleben. Es war ein wunderbares, reiches Lachen, das alle Facetten vom Humorvollen bis zum Höhnischen kannte und ungeachtet des akustischen Volumens auf die leisesten Pointen reagierte, zumal auf solche, die dem Publikum gar nicht bewusst waren, bevor Kersten sie markierte.
Er war gleichzeitig dominant und unendlich differenziert und gewiss für manche, die ihn auf Lesungen oder Kongressen erlebten, auch überfordernd. Sagen wir so: Er war alles andere als harmlos, aber gerade deswegen eine staunenswerte Bereicherung des literarischen Lebens, das er nicht nur als Anwalt und Nachlassverwalter berühmter Schriftsteller prägte, darunter Peter Rühmkorf, Günter Grass, Arno Schmidt, sondern auch durch eigene Bücher und als Vortragender. Joachim Kersten war ein wunderbarer Vorleser, zu Recht gibt es sogar Hörbücher von ihm. In der großen Tradition literarisch begabter Juristen war er vielleicht der letzte, mit Sicherheit aber der letzte in der Tradition jener linken engagierten Vertreter des Establishments, die Fontane einmal spöttisch “Junkerradikale” genannt hat. Er vertrat mit seiner Kanzlei Senfft Kersten Nabert van Eendenburg die prominentesten Akteure des liberalen Spektrums, darunter die ZEIT, und engagierte sich für Jan Philipp Reemtsmas Hamburger Institut für Sozialforschung und dessen Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.
Junkermäßig war indes nur sein Habitus mit Tweedjacken und großzügig ausgebeulten Cordhosen, im Übrigen hasste er alles Ostelbische und besonders Berlin, was den Verfasser dieses Nachrufs immer wieder vor die heikle Frage stellte, ob er sich nun als Berliner mutig outen sollte oder besser nicht. Kersten war mehr und gleichzeitig weniger als ein Hanseat, er war Hamburger Lokalpatriot durch und durch und verabscheute Bremen mehr noch als Berlin, warum auch immer. Vielleicht liegt hier ein Lebensgeheimnis, aber viel wahrscheinlicher liegt es in seiner Bibliothek, die auf unglaubliche 35.000 Bände geschätzt wird. Am Ende war Kersten womöglich vor allem ein Bewohner dieses schützenden literarischen Schneckengehäuses und trat öffentlich nur deswegen so robust auf, weil er in der Außenwelt eine rhetorische Rüstung brauchte. Trivial ist es, beim Tod eines Menschen zu sagen, die Welt werde ärmer ohne ihn. Das wird sie immer. Im Falle von Joachim Kersten kann man aber sagen: Sie wird weniger amüsant, und das ist viel schlimmer.