Jimmy Carter: Nachts beim Präsidenten
Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 02/2025.
Ich hatte wirklich damit gerechnet, allein zu sein um diese Zeit. Vielleicht zwei, drei andere noch, Schlaflose oder Neugierige. Aber dann ist da eine Schlange vor dem Besuchereingang des Kapitols, sie windet sich mehrfach die Straße entlang. Es sind bestimmt tausend Menschen. An einem Mittwoch kurz vor Mitternacht, bei minus sieben Grad Celsius und zentimeterdick vereisten Straßen.
In einer Ecke wird leise gesungen, die meisten drängen sich still aneinander. Zwei bis drei Stunden Wartezeit, heißt es. Nur ganz wenige geben auf und gehen wieder nach Hause. „Vier Monate später sterben“, sagt eine Frau im dunklen Mantel. „Das ist das Einzige, das Jimmy Carter hätte anders machen können.“
Aber Carter, der 39. Präsident der Vereinigten Staaten, ist nun mal jetzt gestorben, wenige Tage nach Weihnachten. Sein Sarg liegt aufgebahrt unter der Kuppel des Kapitols, bedeckt von einer großen US-Flagge, bewacht von Soldatinnen und geschmückt von Blumenkränzen. Noch bis zum Morgengrauen darf jeder kommen und sich verabschieden.
Innehalten ist keine Stärke dieser Gesellschaft
Und das tun sie. Kinder in Schneehosen an der Hand ihrer Eltern. Junge Männer, die Hände tief in den Taschen ihrer Baggy Pants vergraben. Frauen in Lackpumps, in Jogginghose, in Uniform. Eine Gruppe Pfadfinder. Ein Anzugträger, der sich mindestens 20 Sekunden lang vor dem Sarg verneigt. Ein Paar, das sich zum Abschied bekreuzigt. Eine Frau hat das Gesicht in der Armbeuge ihres Mannes vergraben, der sich selbst immer mehr Tränen abwischen muss.
Man hört nur das Rascheln von Winterkleidung, zwischendurch eine Krücke, die über den Steinboden schleift. Niemand spricht, auch nicht flüsternd. Niemand fotografiert. Niemand nimmt ein Smartphone auch nur in die Hand. Der Schauspieler Richard Schiff, der den Redenschreiber Toby Ziegler in der berühmten Serie The West Wing spielte, steht mittendrin, ohne dass ihn jemand anspricht.
Einen öffentlichen Raum, in dem die Leute sich weder unterhalten noch Selfies schießen, muss man in den USA erst mal finden. Weder Museen noch Kirchen fallen darunter, nicht einmal Gedenkstätten. Innehalten ist keine Stärke dieser Gesellschaft.
„Eine dankbare Nation“
Aber Jimmy Carter schafft es, die Menschen dazu zu bewegen. Im Kreis stehen sie um seinen Sarg herum. Es ist tatsächlich eine Trauergemeinde, ein Moment der stummen Verbundenheit unter Fremden. Manche lassen dann doch den Blick schweifen, er landet unweigerlich auf dem prächtigen Deckengemälde. „E pluribus unum“ ist dort zu lesen. Aus vielen eines.
Ich bin keine Amerikanerin. Ich lebe hier nur vorübergehend, darf nicht wählen, und als Journalistin achte ich streng darauf, eine beobachtende Rolle einzunehmen. Aber diese Abschiedsrunde geht mir nah.
Liegt es an dem so selten gewordenen Umstand, dass ein Politiker Emotionen zum Schwingen bringt, die weder Wut noch Hass oder Schadenfreude sind? Respekt ist zu spüren. Trauer um das politische Zeitalter, das da gemeinsam mit Jimmy Carter aufgebahrt ist zu einer letzten, sehnsuchtsvollen Betrachtung. Sorge vor dem, was jetzt kommt. Und tatsächlich: Liebe. „Als letzter Tribut einer dankbaren Nation“ steht auf den elfenbeinfarbenen Kärtchen im Büttenstil, die jeder Besucher am Ausgang in die Hand gedrückt bekommt.
Schwer vorstellbar, dass für Donald Trump mal Traueranzeigen gedruckt werden, auf denen solche Worte stehen. Vielleicht hat er deshalb etwas dagegen, dass während seiner Amtseinführung – draußen vor dem Kapitol sind schon die Tribünen und Absperrgitter aufgebaut – die Flaggen für Jimmy Carter auf halbmast wehen. „Niemand will das sehen“, das hat er dazu gepostet. Die Anerkennung eines anderen hat keinen Platz in seinem Triumphmoment.
Warum sie um ihn weinen
Carter hat bei seiner Wahl damals viele Millionen Stimmen weniger bekommen als Trump. Im Amt galt er als glücklos und nicht sehr beliebt. Nach dem Watergate-Skandal war das Verhältnis der Bevölkerung zur Politik zerrüttet, und was Carter als Präsident bewirkt hatte, wurde vielen erst später bewusst. Es muss einen Grund geben, warum all diese Menschen sich nachts in die Kälte stellen, um einen letzten Blick auf die Holzkiste zu werfen, in der er begraben wird. Warum sie um ihn weinen, obwohl die Mehrheit sich kaum an seine Regierungszeit erinnern dürfte oder erst später geboren wurde.
Sicher trauern viele um die Person Jimmy Carter, diesen freundlichen, bescheidenen und
tiefgläubigen Erdnussfarmer aus Georgia, der Gesundheitsschuhe trug,
Sozialbauten zimmern half und mit Willie Nelson sang. Aber mehr wohl noch um die Unmöglichkeit, dass so jemand – der Inbegriff des Anstands – heute noch Präsident würde. Stattdessen wird es nun in wenigen Tagen wieder derjenige, der vor fast genau vier Jahren einen Mob dazu brachte, den Saal
unter der Kuppel zu verwüsten. Die Tränen, das Innehalten, sie gelten auch der Demokratie, dem Amerika, wie die Trauernden es kannten.
Wieder draußen, in der Schlange fürs Kondolenzbuch, sucht mein Vordermann, ein Mann mit grauen Löckchen und weißem Sweatshirt, plötzlich das Gespräch. „Er war einfach so ein guter Mensch, wissen Sie“, sagt er, als müsse er sich dafür rechtfertigen, hier zu sein. Und dann, noch unvermittelter: „2. Mai 1977. Da hat er die Rede bei meiner Abschlussfeier an der University of Notre Dame gehalten.“ Er plaudert weiter, über Menschenrechte, Doktortitel und die Anfahrt aus New York bei diesem Wetter. Als zwischen uns und dem Buch nur noch eine Frau steht, bedankt er sich bei mir, a German, fürs Kommen. Und will sich noch eine letzte Sache von der Seele reden: „Ich bin übrigens Republikaner.“ Ich will ihn fragen, warum er einer geblieben ist, wenn ihm der Charakter seines Präsidenten so wichtig zu sein scheint. Aber er läuft davon.
Klüger bin ich also nicht unbedingt geworden in dieser Nacht. Aber zumindest nicht weniger hoffnungsvoll. Und das ist schon viel in diesen Tagen.