Jakob Augstein: „dieser Freitag“ wird 35! Wir leuchten mit einer Taschenlampe in die Nacht

In unserer Gegenwart scheitert der Versuch, die Demokratie mit dem Kapitalismus zu versöhnen. Für alle, die sich mit einem „demokratischen Faschismus“ nicht abfinden wollen, machen wir seit nunmehr 35 Jahren den „Freitag“


Berlin-Lichtenberg, August 1991: Ein Ladenangestellter versucht an der Außenfassade eines Einzelhandelsgeschäfts in der Weitlingstraße, Hakenkreuzschmierereien vom Abend zuvor mit weißer Farbe zu übertünchen

Foto: Langrock/Zenit


Diese Zeitung wurde 1990 gegründet und ist also immer so alt wie das aus gebrochenen Hälften zusammengefügte Deutschland. Vor ein paar Jahren hat der Freitag das Signet „Ost-West-Wochenzeitung“ abgelegt. Das war richtig, weil es sich um eine linke Zeitung handelt und die soziale Frage keine der Himmelsrichtungen ist. Es gibt Leute in Leipzig, die im Kapitalismus aufblühen, und Leute in Recklinghausen, die untergepflügt werden. Aber dennoch hat der Freitag einen besonderen, ostdeutschen Charakterzug bewahrt: den Blick aus der Distanz, ein gewisses Fremdeln mit der Gegenwart.

Im Osten hängt man weniger am Status quo als im Westen. Vielleicht, weil es hier weniger zu verlieren gibt. Und wenn die Verhältnisse ins Rutschen kommen, ist man hier weniger verblüfft. Im Westen ist diese Erkenntnis weniger verbreitet als im Osten: Jede Ordnung ist zeitlich.

Als Utopien für eine demokratische Wirtschaft in der Luft lagen

Es gehört zur Paradoxie und zur Tragödie unserer Gegenwart, dass die gleiche Unabhängigkeit von westdeutschen Traditionen, die wir beim Freitag für eine Stärke des Ostens halten, diesen Teil der Republik vielleicht schneller empfänglich gemacht hat für die Versuchung des Nationalpopulismus. Doch längst zieht der Westen nach. Wir erleben eine weltweite rechte Revolution, die immer mehr Länder erfasst, in denen zusehends der Versuch scheitert, die Demokratie mit dem Kapitalismus zu versöhnen. Anstatt die Frage zu stellen, wer die Macht hat und wer ohnmächtig ist, fragen die Menschen lieber, woher einer kommt oder wer er ist.

Wollen Sie eine kurze Geschichte der Gegenwart lesen? Die geht so: Nach der Finanzkrise gab es einen kurzen Moment, in dem das allgemeine Entsetzen über die fundamental undemokratische Funktionsweise des globalen Finanzkapitalismus so groß war, dass seine Reformierung möglich schien. Damals lag es in der Luft, den politischen und sozialen Charakter des Geldes zu stärken. Es gab Ideen für Reformen, Utopien, die auf eine Trennung von Zahlungskreislauf und Kreditsystem, Firmeninvestitionen und privatem Konsum hinausgelaufen wären. So wäre das eigentliche Übel – die private Geldschöpfung durch Banken und Kapitalmärkte – weitgehend unterbunden worden. Man hätte damit die Bedingung für eine demokratische Wirtschaft geschaffen – und vermutlich für das Überleben der Demokratie.

Identitätsdebatten statt Klassenkampf

Aber dann war das System auf Kosten der Allgemeinheit schon wieder stabilisiert und die Gelegenheit vorüber. Darum ist es kein Wunder, dass sich die Welt, nun unter Führung Donald Trumps, genau in die andere Richtung bewegt: Krypto-Boom und Entmachtung der Zentralbanken. Man hatte für einen kurzen kostbaren Moment den Schopf des Schicksals in der Hand – und ließ ihn gleich wieder los. Sozialdemokraten aller Länder gaben sich alle Mühe, dem System auf die Beine zu helfen. Die Linken verirrten sich mit unbegreiflichem, beinahe frivolem Leichtsinn auf ein Feld, auf dem sie nichts zu suchen haben: das der Identität.

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Es war ein historisches Versagen der Linken in Medien, Politik und Kultur, sich lieber in Identitätsdebatten zu stürzen als in den Klassenkampf. So haben die Linken auf ihre Weise mitgeholfen, einen Schlüssel passend zu machen, der immer mehr Menschen einen Zugang zur Gegenwart gewährt: die Frage nach Identität und Herkunft. Den Linken hat dieser Schlüssel die politische Abstellkammer geöffnet – den Neofaschisten von Israel über Europa bis in die USA dagegen die Ballsäle der Macht.

Für diejenigen, denen nicht gleichgültig ist, was geschieht

Dieser Fehler ist nicht mehr korrigierbar. Das Verhängnis nimmt jetzt seinen Lauf, und je nach seelischer Disposition wird man sich für die Zukunft einen großen Krieg vorstellen, in dem sich die dunklen Energien verbrauchen, die der Faschismus erzeugt. Oder nur ein langes Dahinsiechen der Kräfte des alten Liberalismus. Mit zu viel Gegenwehr sollte man auf Dauer nicht rechnen, auch wenn jetzt noch Millionen von Amerikanern gegen ihren Möchtegern-König auf die Straße gehen und Hunderttausende von Deutschen gegen eine Zusammenarbeit der CDU mit den Rechtsextremisten.

Gerade im sogenannten bürgerlichen Lager verbirgt sich hinter der aufgeplusterten Empörung bei nicht wenigen die stille Überzeugung, dass man sich auch in einem umgestürzten System bequem einrichten kann. Martin Niemöllers berühmtes Zitat, in dem es um die Gleichgültigkeit gegenüber einer Kaskade von Opfern geht, bis man selbst an der Reihe und alles zu spät ist, ist von beklemmender politischer Poesie, aber historisch irreführend: Die Mehrheit der Menschen hat selbst im Nationalsozialismus unbehelligt gelebt, das ist das Wesen aller Diktaturen und das wird auch das Wesen des kommenden „demokratischen Faschismus“ sein (ein Wort aus Carolin Amlingers und Oliver Nachtweys neuem Buch Zerstörungslust): Die Leute wenden sich achselzuckend von der Unterdrückung ab, wenn sie merken, dass sie nicht gemeint sind.

Für diejenigen, die gemeint sind, und für diejenigen, denen nicht gleichgültig ist, was geschieht, schreibt der Freitag. Wir leuchten mit einer Taschenlampe in die Nacht.

Ihr Jakob Augstein

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Der Freitag wird 35 Jahre alt!

Am 9. November 1990 erschien die erste Ausgabe des Freitag – einer Fusion des ostdeutschen Sonntag und der westdeutschen Volkszeitung. Mit dem Untertitel Die Ost-West-Wochenzeitung begleitete er die deutsche Einheit von Anfang an aus einer kritischen Perspektive.

Wir wollen bloß die Welt verändern: Mit unserem Ringen um die Utopien der Gegenwart, mit unserem lauten Streiten und Nach-Denken, mit den klügsten Stimmen und der Lust am guten Argument finden wir heraus, was es heißt, links zu sein – 1990, die vergangenen 35 Jahre, heute und in Zukunft.

Dazu gratulieren uns Slavoj Žižek und Christoph Hein, Tahsim Durgun und Margot Käßmann, Svenja Flaßpöhler, Sahra Wagenknecht, El Hotzo und viele weitere Interviewpartnerinnen, Autoren und Wegbegleiterinnen des Freitag.

Lesen Sie dies und viel mehr in der Jubiläumsausgabe der Freitag 45/2025 und feiern Sie mit uns!