Italiens Regierungschefin: Die zwei Gesichter jener Giorgia Meloni
Zum zweiten Jahrestag ihres Amtsantritts vom 22. Oktober 2022 hat sich Giorgia Meloni selbst beglückwünscht – und das italienische Volk dazu. Und das jeweils zweifach: mit einem kurzen Video, das sie über die sozialen Medien verbreiten ließ, sowie mit einer Art Powerpoint-Präsentation von 59 Dias auf der Website des Ministerpräsidentenamts. Viel ist in diesen Zwischenbilanzen von „historischen Rekorden“ die Rede, in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Das Erreichte wird detailliert gepriesen, die anstehenden Aufgaben werden grob skizziert.
„Wenn ich heute auf die vergangenen zwei Jahre zurückblicke, denke ich feststellen zu können, dass ich mich nie geschont habe“, sagt Meloni und fährt fort: „Und ich glaube, dass ich mit den Ergebnissen und Zielen, die wir für Italien erreicht haben, zufrieden sein kann, obschon mir bewusst ist, wie viel Arbeit noch vor uns liegt.“
Meloni spricht das in ihrem unüberhörbaren Römer Dialekt, den sie als Markenzeichen pflegt. Die erste Frau im höchsten Regierungsamt Italiens kommt aus einfachen Verhältnissen, aus dem Arbeiter- und Kleinbürgerviertel Garbatella. Sie hat nie studiert, stürzte sich aber schon als begabte und ehrgeizige Gymnasiastin von 15 Jahren ins politische Geschäft.
2006 wurde sie mit 29 Jahren in die Abgeordnetenkammer gewählt und dort sogleich zur jüngsten Vizepräsidentin in der Geschichte der Republik Italien. Silvio Berlusconi machte sie zwei Jahre später zu seiner Jugend- und Sportministerin. Auch in das italienische Kabinett hat es so jung noch niemand geschafft.
Meloni hat es schon jetzt weiter gebracht als viele vor ihr
In der kaum zwei Minuten langen Ansprache zum zweiten Jahrestag ihrer Vereidigung lässt Meloni keinen Zweifel daran, dass sie und ihre Mitte-rechts-Koalition bis zum regulären Ende der Legislaturperiode im Herbst 2027 an der Macht bleiben werden. Ihr Selbstlob ist naturgemäß grob überzogen. Doch schon jetzt hat sie es weiter gebracht als Dutzende ihrer männlichen Amtsvorgänger: In der Rangliste der Ministerpräsidenten mit der längsten Regierungszeit an einem Stück seit Ende des Zweiten Weltkriegs steht sie schon auf Platz sechs. Nur politische Alphatiere wie Silvio Berlusconi, Bettino Craxi, Matteo Renzi, Romano Prodi und Aldo Moro konnten ihre Kabinette länger beisammenhalten.
Viele von ihnen gelangten nach einem Sturz wieder zurück an die Regierungsspitze. Der Verlauf der ersten zwei Jahre der Regentschaft Giorgia Melonis lässt vermuten, dass sie in Sachen Regierungslanglebigkeit noch einige der genannten Amtsvorgänger überholen wird.
Die Ministerpräsidentin und ihr Kabinett sitzen fest im Sattel, ungeachtet einiger Rückschläge auf heimischer und europäischer Bühne. Melonis rechtskonservative Partei Brüder Italiens liegt mit rund 30 Prozent Zustimmung konstant an der Spitze aller Umfragen. Ihre Koalitionspartner, die christdemokratische Forza Italia und die rechtsnationale Lega, kommen auf neun und acht Prozent.
Auf der Seite der zerstrittenen linken Opposition verharren die Sozialdemokraten bei 23 Prozent, die populistischen Fünf Sterne bei zwölf und die Grünen bei sieben Prozent. Der Traum des einstigen politischen Wunderkinds Matteo Renzi von einem „dritten Pol“ ist geplatzt: Renzis eigene Partei sowie eine zweite Kleinpartei der liberalen Mitte, die untereinander ebenfalls zerstritten sind, kommen zusammen auf gerade einmal fünf Prozent.
Mit der Arbeit der Regierung äußerten sich in jüngsten Umfragen 44 Prozent der Befragten zufrieden, ein moderater Rückgang von sieben Punkten gegenüber dem Höchstwert kurz nach Amtsantritt. Die Zustimmung zu Meloni persönlich ging im selben Zeitraum von 54 auf ebenfalls 44 Prozent zurück. Bei den Regionalwahlen 2023 und 2024, in neun der zwanzig Regionen des Landes, konnte Melonis Mitte-rechts-Bündnis acht klare Siege erringen, darunter in der Hauptstadtregion Latium und in der Lombardei. Einzig Sardinien ging knapp an die Linke verloren, die sich dort ausnahmsweise auf eine gemeinsame Kandidatin hatte einigen können.
Fest an der Seite der Ukraine
Ihre beiden Vizeministerpräsidenten, Außenminister Antonio Tajani und Verkehrsminister Matteo Salvini, hält Meloni an mittellanger Leine. Die nutzen den Freiraum zur eigenen politischen Profilierung im Inneren, Tajani vor allem für die Justizreform gegen „politisierende“ Richter, Salvini für die Ausweitung der Autonomierechte der Regionen. Sie rütteln aber kaum je an der Richtlinienkompetenz der Regierungschefin. In den wesentlichen innen- und außenpolitischen Fragen herrscht Einigkeit in der Koalition.
Von Tajani, inzwischen 71 Jahre alt und seit dem Tod Berlusconis im Juni 2023 dessen Nachfolger an der Spitze der Forza Italia, hat Meloni ohnehin nichts zu befürchten. Salvini ist mit 51 Jahren zwar nur vier Jahre älter als Meloni und mag selbst noch immer Ambitionen auf das Spitzenamt hegen. Er hat aber genug damit zu tun, seine angeschlagene Position als Parteichef der Lega gegen Konkurrenz aus den eigenen Reihen zu verteidigen.
In der Außen-, Europa- und Sicherheitspolitik passt kein Blatt zwischen Meloni und Tajani. In der Migrationspolitik kann Salvini den keifenden Populisten geben, ohne seine in der Frage etwas gemäßigtere Vorgesetzte damit zu desavouieren. Wie unter ihrem unmittelbaren Amtsvorgänger Mario Draghi steht Melonis Mitte-rechts-Koalition seit zwei Jahren fest an der Seite der Ukraine, gemeinsam mit den Partnern in EU und NATO.
Und Stellungnahmen der Regierung Meloni zum Nahostkrieg betonen stets das Recht Israels zur Selbstverteidigung gegen islamistische Terroristen und gegen den Terrorsponsor Iran an erster Stelle. An den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ergehen allenfalls vorsichtige Mahnungen, die Zivilbevölkerung im Gazastreifen und in Libanon zu schonen sowie die UN-Truppe in Südlibanon, zu der Italien traditionsgemäß ein beträchtliches Kontingent stellt.
Melonis teils brachial europakritische Rhetorik während der Kampagne vor den Parlamentswahlen vom September 2022 ist einer pragmatischen Politik der Kooperation mit Brüssel und namentlich mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gewichen. Das gilt auch und gerade in der Migrationspolitik. Melonis Strategie, mit den Maghrebstaaten Algerien, Libyen und Tunesien zusammenzuarbeiten, die im Gegenzug für finanzielle Unterstützung Migranten schon an der nordafrikanischen Küste von der gefährlichen Fahrt über das Mittelmeer abhalten sollen, findet Unterstützung in immer mehr EU-Staaten – und bei von der Leyen sowieso.
Sogar Melonis „Modell Albanien“, die Idee also, Abschiebezentren für Migranten aus sicheren Herkunftsländern außerhalb der EU einzurichten, wird weithin als mögliches Element im Kampf gegen irreguläre Massenmigration nach Europa anerkannt. Die Regierung Meloni mag im Streit darüber, welche Herkunftsländer als sicher gelten können, vorläufig Schlappen vor italienischen und europäischen Gerichten erlitten haben. Viel spricht aber dafür, dass das „Modell Albanien“ nicht am Ende ist. Schon bald könnte die nationale und europäische Rechtsprechung den wachsenden politischen Konsens in der EU für mehr Abschottung und mehr Abschiebung widerspiegeln.
Meloni kann zu Recht behaupten, dass die Stimme Italiens beim Thema Migration zunehmend Gehör findet, dass die Regierung in Rom der EU-Politik sogar ihren Stempel aufgedrückt hat. Bei der Besetzung der Spitzenposten in der neuen EU-Kommission war das allerdings nicht der Fall.
Nach dem klaren Sieg ihrer Brüder Italiens bei den Europawahlen Anfang Juni daheim und angesichts des Erstarkens konservativer und rechtsnationaler politischer Kräfte in vielen EU-Staaten hatte Meloni den Anspruch erhoben, Italien müsse neben Deutschland und Frankreich mit am Tisch sitzen, wenn über die Vergabe der „Top Jobs“ in Brüssel und Straßburg entschieden wird. Stattdessen machten Bundeskanzler Olaf Scholz und Präsident Emmanuel Macron, wiewohl beide zu Hause politisch schwer angeschlagen, das Personalpaket untereinander aus. Meloni war isoliert und schäumte.
Meloni will in Europa zur Frontfrau der Rechten werden
Die Scharte dieses schweren Rückschlags dürfte Meloni aber auswetzen können. Denn Raffaele Fitto, ihr Kandidat für den Posten eines exekutiven Vizepräsidenten der EU-Kommission, wird aller Wahrscheinlichkeit nach vom Europaparlament bestätigt werden – mit Stimmen aus den Reihen der Christdemokraten unter Führung des CSU-Mannes und Meloni-Freundes Manfred Weber. Sozialdemokraten, Grüne und Linksliberale möchten Fitto, der zu Melonis Brüdern Italiens gehört, für alle Zeiten hinter die politische Brandmauer verbannt sehen.
Unerfüllt ist bisher Melonis Ambition geblieben, auf europäischer Ebene zur unangefochtenen Frontfrau der Rechten jenseits der Christdemokraten zu werden. Die Parteienlandschaft dort bleibt zerklüftet und in ständiger Bewegung. Um den ideologischen und strategischen Führungsanspruch ringen neben Meloni die Französin Marine Le Pen, der Ungar Viktor Orbán und der Niederländer Geert Wilders.
Wohin sich Meloni entwickelt, ist bei alledem noch nicht ausgemacht. Der italienische Ökonom und Publizist Carlo Bastasin hat es so formuliert: Meloni stehe nach zwei Jahren Regierungszeit vor einer strategischen Entscheidung. Entweder werde sie zu „Giorgia Mercher, einer italienischen Kombination von proeuropäischer Angela Merkel und liberal-konservativer Margaret Thatcher“. Oder sie kehre zurück zu den nationalistischen Überzeugungen ihrer postfaschistischen Ursprünge, als sie mit 19 Jahren im Gespräch mit einem französischen Fernsehsender die Torheit von sich gegeben hatte, Mussolini sei „ein guter Politiker gewesen, der alles, was er tat, für Italien getan hat“.
Das führt zu den „zwei Gesichtern“, die Gegner und Skeptiker noch heute beim Blick auf Meloni sehen wollen. Unvergessen ist ihr Auftritt vom Juni 2022 bei einer Wahlkampfveranstaltung ihres damaligen Verbündeten Santiago Ascabal von der spanischen Rechtspartei Vox. „Ja zur natürlichen Familie, nein zur LGBT-Lobby!“, peitschte sie die Menge auf und fuhr fort: „Ja zur Identität der Geschlechter, nein zur Gender-Ideologie! Nein zu islamistischer Gewalt, ja zu christlichen Werten! Nein zur Masseneinwanderung, ja zu sicheren Grenzen! Nein zur internationalen Großfinanz! Nein zu den Bürokraten in Brüssel, ja zu unserer Zivilisation!“
In den Monaten und Jahren danach hat sich Meloni mehrfach von der feurigen Rhetorik ihrer auf Spanisch gehaltenen Wahlkampfrede distanziert. Sie habe sich eine Aufnahme davon angeschaut, sagte sie der italienischen Zeitung „La Stampa“ schon vier Wochen nach der Rede: „Ich mochte mich nicht. Ich würde den Ton ändern, aber nicht den Inhalt.“ Sie sei damals müde gewesen, habe entschlossen klingen wollen, sei aber aggressiv herübergekommen.
Ascabal hat mit seiner Partei Vox nach den Europawahlen die von Meloni geführte Parteienfamilie der Europäischen Konservativen und Reformer verlassen, weil ihm die zu gemäßigt war. Er ist zu Viktor Orbáns Gruppe Patrioten für Europa übergelaufen, zu der nun auch die Parteien von Marine Le Pen und Geert Wilders gehören.
Source: faz.net