Italien | In Italien stillstehen am 8. und 9. Juni gleich fünf Referenden an
Mit landesweiten Abstimmungen soll die Rücknahme neoliberaler Reformen erzwungen werden. Voraussetzung ist eine Beteiligung von 50 Prozent der Wahlberechtigten. Ansonsten sind die Voten ungültig
Streik der italienischen Metallgewerkschaft in Turin, 2025
Foto: Nicolo Campo/Imago Images
Seltsam mag es erscheinen, wenn regierende Parteien zum Abstimmungsboykott aufrufen. In Italien hat das Tradition. Man solle lieber ans Meer fahren, als ins Wahllokal zu gehen, befand der sozialistische Premier Bettino Craxi 1991, und sein Nachfolger Silvio Berlusconi tat es ihm mehrfach gleich. In diesem Jahr sind es die Parteien von Giorgia Melonis Rechtskoalition, die von der Teilnahme an fünf Referenden abraten, die am 8. und 9. Juni anstehen. Laut Verfassung wäre das Ergebnis nichtig, wenn weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten abstimmt. Darauf setzen Meloni und Partner – denn eine gültige Mehrheit bei diesen Voten könnte sie in ernsthafte Schwierigkeiten bringen.
In vier Fällen geht es um die Rücknahme neoliberaler Reformen des Arbeitsmarktes. Diese erleichtern Kündigungen und befristete Arbeitsverträge, begrenzen die Höhe von Abfindungen und Entschädigungen bei Arbeitsunfällen. Da die Verfassung lediglich ein „abrogatives“ (abschaffendes) Referendum vorsieht, können die entsprechenden Gesetze nur zugunsten der vor ihrem Inkrafttreten gültigen Regelungen aufgehoben werden. So würde im Fall des fünften Referendums zur Einbürgerung von Menschen aus Nicht-EU-Staaten die Wartezeit von derzeit zehn auf fünf Jahre verkürzt, wie das bis 1992 galt.
Sicher wären bei allen fünf zur Abstimmung stehenden Fragen weitergehende Reformen wünschenswert. Zweifellos würde ein Erfolg der Referenden den Betroffenen Vorteile bringen. Für die Initiatoren – den Gewerkschaftsbund CGIL und die Allianz der Italiener ohne Staatsbürgerschaft – wäre er zudem eine Ermutigung im Kampf gegen den Rechtskurs der Meloni-Regierung, ebenso für viele Unterstützer. Dazu zählen neben zivilgesellschaftlichen Gruppen auch die Oppositionsparteien Partito Democratico (PD), das Movimento Cinque Stelle (M5S) und das linksgrüne Bündnis Alleanza Verdi e Sinistra (AVS). Prominentestes Gesicht der vier von den Gewerkschaften getragenen Entscheide ist der CGIL-Vorsitzende Maurizio Landini. Für die Kampagne zur erleichterten Einbürgerung steht vor allem der Abgeordnete Riccardo Magi von der Partei „Mehr Europa“.
Elly Schlein klingt mutig
Zu schaffen macht den Betreibern nicht nur der Boykottaufruf der Regierungsparteien, sondern auch die mangelhafte Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen RAI-Sender. Das hat Verfassungsrechtler mobilisiert, die sich um die Demokratie Sorgen machen. Zu ihnen gehört der 84-jährige Rechtsphilosoph Luigi Ferrajolo. Für ihn gehe es nicht nur darum, schlechte Gesetze aufzuheben, sondern um ein Zeichen gegen die gesamte illiberale und antisoziale Politik der Regierung, schrieb er.
Artikel 3 der Verfassung von 1948 garantiere nicht nur die Gleichheit aller Staatsbürger. Sie verpflichte den Staat außerdem zu einer aktiven Politik, um „Hindernisse abzuschaffen, welche die Freiheit und Gleichheit der Bürger einschränken“. Von solchen Bemühungen kann bei der derzeitigen Regierung keine Rede sein. Nach jüngsten Zahlen des staatlichen Statistikinstituts Istat sind 23 Prozent der Bevölkerung (in den südlichen Regionen 40 Prozent) arm oder von Armut bedroht; ein Drittel der unter 34-Jährigen hat nur befristete Jobs oder arbeitet unfreiwillig in Teilzeit.
Dazu haben auch die Gesetze beigetragen, über deren Abschaffung jetzt abgestimmt wird. Mehrere davon stammen aus der Regierungszeit von Mitte-Links unter Matteo Renzi, der damals auch PD-Vorsitzender war. Seine Nachfolgerin Elly Schlein hat dazu aufgerufen, die bevorstehenden Plebiszite auch als Gelegenheit zur Korrektur offenkundiger Fehler zu nutzen.
Was das Mindestquorum angeht, sind Schlein und andere Befürworter der Referenden zuversichtlich. Der PD-Politiker Alfiero Grandi erinnert an die Folgen der erfolgreichen Abstimmung gegen die Privatisierung der Wasserversorgung im Jahr 2011: „Damals forderte Silvio Berlusconi dazu auf, sich zu enthalten. Sechs Monate später wurde er gestürzt.“ Dass Giorgia Meloni Gleiches widerfährt, erscheint momentan ziemlich unwahrscheinlich. Die nächste Parlamentswahl ist erst im Herbst 2027 fällig. Bislang sieht es danach aus, dass Meloni ihre fünfjährige Amtszeit in Gänze übersteht. Selbst ihre Wiederwahl scheint möglich, besonders dann, wenn sie durchsetzen kann, dass künftig die Regierungschefin oder der Regierungschef direkt gewählt werden.
Um das zu verhindern, wäre ein erfolgreicher Ausgang der jetzigen Referenden ein wichtiger Schritt. Wobei die Definition von Erfolg nicht ganz eindeutig ist. CGIL-Chef Landini setzt nach wie vor auf Sieg, während sich andere mit einer Beteiligung von 40 Prozent zufrieden gäben. Dann wären die Referenden zwar gescheitert, von den mehr als 20 Millionen Abstimmenden dürfte aber die übergroße Mehrheit mit Ja gestimmt haben. Das würde die Opposition ermutigen, vereint eine alternative Politik zu verfolgen. Nur wenn das gelingt, besteht die berechtige Hoffnung, die nächste Parlamentswahl nicht erneut zu verlieren. Elly Schlein versichert wagemutig, ihr Partito Democratico und das gesamte Mitte-Links-Lager seien sofort bereit für vorgezogene Neuwahlen.