Ist Marine Le Pen zweite Geige „sinister“? Warum Frankreichs Top-Rechte neuerdings hinaus zwischenmenschlich macht

Angenommen, Sie verlassen morgens Ihr vom Staat gefördertes Eigenheim, Sie kaufen sich auf die Schnelle ein Croissant in der örtlichen Boulangerie, Sie winken gut gelaunt dem Postmann und dem Polizisten zu (ja, hier mitten in Frankreich gibt es sie noch, die braven Staatsdiener auf dem Drahtesel und in Uniform). Dann steigen Sie in Ihren Verbrenner-Renault, fahren auf einer (endlich!) verstaatlichten Autobahn ohne Mautgebühren vorbei an gut ausgestatteten Krankenhäusern und Schulen.

Ihr Blick streift die Landschaft, ganz ohne Windräder, bevor Sie Ihr mittelständisches Unternehmen erreichen, in dem selbstverständlich nur Menschen mit französischer Staatsangehörigkeit arbeiten. Und am Ende des Tages schauen Sie hoffnungsfroh jenen LKWs hinterher, auf denen Ihre Güter zu günstigen Preisen (fast gänzlich befreit von der Mehrwertsteuer!) in alle Ecken des Hexagons gebracht werden. Ja, wirtschaften könnte so einfach sein, so französisch, so heimelig. Willkommen in der schönen, alten Welt des Rassemblement National (RN).

Marine Le Pen plädiert für einen starken öffentlichen Dienst

Was anekdotisch anmuten mag, könnte schneller aktuell werden, als gedacht. Denn die Le-Pen-Partei könnte eines Tages an die Macht kommen – angesichts der politischen Instabilität ist das zumindest nicht auszuschließen. Derzeit reibt man sich beim Blick auf Frankreich die Augen: Seit den Neuwahlen im letzten Sommer steckt das Land in einer tiefsitzenden Regierungskrise; ein Premierminister folgt auf den nächsten, und der Präsident ist zwar auf internationaler Bühne noch gern gesehener Gast, aber im eigenen Land fast schon persona non grata.

Zuletzt hat Emmanuel Macron den zurückgetretenen Premierminister Sébastien Lecornu einfach wiederernannt, und dem fällt nun die ungnädige Aufgabe zu, einen Haushalt vorzulegen, der das Staatsdefizit nicht verschlimmert. Jetzt sind die Sozialisten das Zünglein an der Waage und um sie zu besänftigen soll zunächst mal die viel kritisierte Rentenreform bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen ausgesetzt werden. Lecornu schlägt ein schwer undurchsichtiges Potpourri aus Steuersenkungen, Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen vor, das den einen zu links, den anderen zu rechts ist. Und so bereiten sich im Hintergrund alle Parteien ununterbrochen auf Neuwahlen vor, denn das nächste Misstrauensvotum kommt bestimmt.

Die Wirtschafts- und Finanzpolitik ist im hochverschuldeten Frankreich tatsächlich ein heißes Pflaster, ein Dschungel von Positionen, in denen man auch schon mal links und rechts verwechseln kann. Denn im Gegensatz zu anderen nationalistischen Strömungen, die den Staat möglichst weit zurückdrängen wollen, plädieren Marine Le Pen und ihre Truppe durchaus für einen starken öffentlichen Dienst, für interventionistische Maßnahmen und üppige finanzielle Zuschüsse. Anders als zum Beispiel die MAGA-Bewegung in den USA oder der Weidel-Flügel der AfD, die Menschen (und Unternehmen) vom Staat befreien wollen. Kann man daraus schließen, dass der RN in Wirtschaftsfragen eigentlich links tickt?

Nur 21 Prozent des RN-Programms können als „wirtschaftsliberal“ gelten

Das zumindest behauptete 2023 Guillaume Kasparian, Abgeordneter der Macron-Partei und damals Vorsitzender der Wirtschaftskommission im Parlament, um vor den Rechtspopulisten zu warnen: „Der Mechanismus der Preisbindung ist kommunistisch und marxistisch inspiriert“, sagte er dort. „Man kann nicht sagen, dass er einem liberalen Geist entspringt.“

Mit der Frage, wie viel sozialistische Politik bei den Nationalen zu finden ist, beschäftigte sich 2022 schon eine Studie des Politologen Gilles Ivaldi von der renommierten Hochschule Sciences Po. Er kommt zu dem Ergebnis, dass 66 Prozent des Wirtschaftsprogramms des RN aus Vorschlägen zur staatlichen Umverteilung bestehen und nur noch 21 Prozent als wirtschaftsliberal gelten könnten. Damit habe der RN ökonomisch einen Linksruck vollzogen. Aber gerade als Deutsche sollten die Alarmglocken schrillen, wenn man uns Nationalisten als links verkaufen will, wenn man „national“ und „sozialistisch“ in einen Topf oder in ein Wort packt.

Die Kritik am Imperialismus allein macht noch keine linke Politik – ebenso wenig wie das Eingreifen in Märkte und das Ankurbeln der Nachfrage durch Stärkung der Kaufkraft. Nicht erst seit Corona, als wir die negativen Auswüchse einer globalisierten Wirtschaftsordnung schmerzhaft zu spüren bekamen, sinniert man unter Nationalisten darüber, wie viel freier Handel, freie Märkte und freier Personenverkehr der heimischen Wirtschaft nun nutzen oder schaden.

Für Kaliber wie Donald Trump gehört es sich, den ökonomischen Patriotismus in jedes Dekret zu schreiben (auch wenn er des Öfteren den Eindruck vermittelt, dass er die Folgen seines wirtschaftlichen Handelns – gerade in Zollfragen – nicht in Gänze durchblickt). Sei’s drum: Durch Trump fühlen sich auch in Europa rechtskonservative Kräfte bestärkt, mehr ökonomische Abgrenzung zu fordern und auf die „nationale Präferenz“ zu beharren, also den Ausschluss von Migranten aus dem Arbeitsmarkt und die Priorität auf das „eigene Volk“. In Frankreich schlagen Unternehmen jedoch Alarm.

Emmanuel Macron bezifferte die jährlichen Kosten für das RN-Programm auf 100 Milliarden zusätzlich

Denn ohne Zuwanderung – ob legal oder illegal – stünden vor allem die Baubranche, aber auch der Dienstleistungs- und Pflegesektor vor immensen Schwierigkeiten. Marine Le Pen und ihren Leuten geht es aber gar nicht um die realen wirtschaftlichen Auswirkungen, solange man auf der Welle von Fremdenhass und Rassismus reiten kann. Und wenn man sich für staatliche Leistungen starkmacht – angefangen von Schulen über Krankenhäuser bis zur Rente und Arbeitslosenhilfe –, dann natürlich nur für jene, die den richtigen Pass besitzen.

Seit Le Pen die Partei 2011 von ihrem Vater Jean-Marie übernommen hat, ist sie von dessen Fetischthemen Einwanderung und innere Sicherheit abgerückt, weil man damit allein keine Mehrheiten gewinnen könne. Von nun an erhob sie die Kaufkraft zum wichtigsten Thema und führte in diesem Geist auch die letzten Wahlkämpfe. Um die Kaufkraft zu stärken, müsse die Mehrwertsteuer auf Energie und Grundnahrungsmittel von 20 auf 5,5 Prozent gesenkt werden. Außerdem müsse es zinslose Darlehen bis zu einer Grenze von 100.000 Euro geben, damit Geringverdiener sich ihr Eigenheim leisten können.

Auch eine Befreiung von der Einkommenssteuer für unter 30-Jährige wird vorgeschlagen, sowie die Schaffung tausender neuer Stellen für Polizisten und Richter, die Privatisierung des öffentlichen Rundfunks und die Verstaatlichung der Autobahnen. Sie merken schon: Es kostet. Nach Meinung vieler Ökonomen würden all diese Maßnahmen das Staatsdefizit in die Höhe treiben und könnten zu einer ausgewachsenen Finanzkrise führen. Emmanuel Macron bezifferte im Wahlkampf 2024 die Kosten für das RN-Programm pro Jahr auf 100 Milliarden zusätzlich. Demnach würde der Traum von blühenden Landschaften schnell zu einem Alptraum werden. Aber bislang steht ja alles nur auf Papier.

Wie reagieren die Unternehmer auf den Rassemblement National?

Um mit diesem Wust an mitunter widersprüchlichen Vorschlägen die Unternehmer nicht zu verschrecken, sind Le Pen und ihr junger Parteichef Jordan Bardella in den letzten Jahren von der lang gehegten Idee, die Europäische Union zu verlassen (Frexit), abgerückt. Auch am „Loi de Travail“ wollen sie festhalten – also der Arbeitsmarktreform aus dem Jahre 2016, was viele als eine Annäherung an das Unternehmertum interpretieren. Das soll eine Öffnung der Wählerschaft in Richtung Mitte ermöglichen – mit einem gewissen Erfolg, wie man feststellen kann.

Denn auch wenn Bardella kürzlich beim Treffen mit dem Unternehmerverband Medef sehr verhalten begrüßt wurde, so hat doch in den letzten Monaten die Kritik und der Alarmismus aus dem letzten Wahlkampf spürbar abgenommen. Man ist eher in einer opportunistischen Habachtstellung. Denn falls die Rechtspopulisten doch eines Tages an die Macht kommen, müsste man sich schließlich arrangieren. Und besser als eine linke Regierung wäre es allemal. Man müsse bei der Partei „nur“ für eine proeuropäische und unternehmerfreundliche Haltung werben – und was die Migranten angeht, nun ja, auch da wird man Kompromisse finden. In Italien wurde Giorgia Meloni ja auch nicht so heiß gegessen, wie gekocht…

Anfang September versprach Bardella den Unternehmern in einem Brief, dass er Einsparungen von 100 Milliarden Euro durch Senkungen von Produktionssteuern und Abschaffung von Normen und Administration für sie in petto habe. Die Verführungsoffensive ist also in vollem Gange.

Das französische Bürgertum hat mehr Angst vor Linken als vor Rechten

Ähnlich verhält es sich in Deutschland, wo sich Wirtschaftsbosse mehr und mehr die Frage stellen werden, wie die Wirtschaft mit einer erstarkten AfD umgehen soll – und wer in der Partei bei diesen Fragen das Sagen hat: Alice Weidel mit ihrer Liebe zum neoliberalen Selfmade-Man Elon Musk oder die Björn-Höcke-Fraktion, die noch an das Idealbild eines männlichen Ernährers glaubt und einen „solidarischen Patriotismus“ predigt. Es ist also kompliziert, denn einerseits braucht man die wirtschaftlichen Eliten, um glaubwürdig und mehrheitsfähig zu wirken, aber andererseits darf man die Stammwählerschaft aus den unteren Schichten nicht vergrätzen, denen man jahrzehntelang erzählt hat, wie horrible eben diese Eliten sind. Das gilt in Frankreich und Deutschland gleichermaßen.

Und nicht zuletzt schwebt über allem die Frage: Wie realistisch ist die Umsetzung von Wirtschaftskonzepten, die sich in einer globalisierten Wirtschaftsordnung an Patriotismus und Protektionismus orientieren – es sei denn, sie gehen einher mit einer autoritären, vielleicht faschistischen Herrschaft? Heute ist im französischen Bürgertum die Angst vor einer linken Regierung leider weiter verbreitet als die Bedenken gegenüber der extremen Rechten. Die Brandmauer der Wirtschaft in Richtung RN schwankt, denn am Ende will man nur eins: business as usual.