Isaac Julien in Mantua: Wo Göttinnen zu uns sprechen
In der glatt rasierten Gartenanlage des Palazzo del Te in Mantua, der im manieristischen Stil erbauten Renaissancevilla des Markgrafen von Mantua, Federico II. Gonzaga, stehen junge Zedern und Eichen, die eigentlich für die Wälder Kaliforniens typisch sind. Sie wurden von dem britischen Film- und Installationskünstler Isaac Julien hierher in die Lombardei gebracht, wo sie Besuchern den Weg zu Juliens neuer Videoinstallation in der restaurierten „Fruttiere“-Halle weisen.
„All That Changes You. Metamorphosis“ ist von der faszinierenden architektonischen, malerischen und philosophischen Konzeption des Schlosses angeregt, zieht von hier Parallelen zur Gegenwart und Zukunft von Menschheit und Erde und wurde teilweise auch hier gefilmt.
Der Palazzo del Te wurde zwischen 1525 und 1535 am Rande Mantuas als Villa Suburbana zur Entspannung, für Feste und Empfänge von dem Architekten und Maler Giulio Romano, einem Schüler Raffaels, entworfen. Die einstöckige, zwei Höfe umschließende Schlossanlage mit Loggien und Exedra will mit zeitgenössischer Kunst ein größeres Publikum nach Mantua locken – in eine Stadt, die ihren Renaissance-Charakter auf bemerkenswerte Weise bewahrt hat und in der heute kaum mehr Menschen leben als im sechzehnten Jahrhundert.
Romano konzipierte die Anlage als Spiel der Metamorphosen: von der humorvoll den Verfall klassischer Architekturprinzipien andeutenden Architektur zu den beeindruckenden Fresken, die Mythen von Ovid und Apuleius zu Themen der Transformation und der Beziehung von Natur, Göttern und Menschheit integrieren.
Im „Saal der Giganten“ mit dem wohl bekanntesten Fresko des Manierismus löst Romano mit seiner Darstellung des „Gigantensturzes“ die Architektur des Raums komplett auf. Das Fresko zeigt die Giganten, Gaias Kinder, die Steine und Feuer gen Himmel schleudern, jedoch von Jupiter und Athene niedergestreckt werden. Der gewaltsame Einsturz von Bergen, dramatische Wolken und verzerrte Gesichter künden von einem tiefgreifenden kosmischen Umbruch, auf den die Wiederherstellung der Ordnung folgen wird. Der Mythos, den auch der Fries des Pergamonaltars in Berlin darstellt, verkörpert menschlichen Ehrgeiz, Machtstreben und die Hybris der Selbstüberschätzung.
Hier setzt Juliens Videoinstallation an. Auch sie will durch immersive Bilder und poetische Erzählung aufrütteln und warnen. Zehn Bildschirme werden in rundherum angebrachten Spiegeln reflektiert, sodass sich der Betrachter über etwa fünfundzwanzig Minuten in wechselnden Bildern von unversehrter Natur verliert – von Bienen, die in Fingerhut-Blüten hineinkrabbeln, zu nebeligen Riesenmammut-Wäldern in Kalifornien, die später in Flammen aufgehen und am Ende wieder unversehrt erscheinen. Dazwischen sind Szenen mit zwei zeitreisenden Göttinnen geschnitten, die zum Betrachter sprechen. Sie wollen uns über unsere anthropozentrische Weltanschauung hinaus einen Weg aufzeigen, wie wir den Planeten mit allen organischen und anorganischen Organismen teilen können.

Verkörpert werden die Göttinnen von den britischen Schauspielerinnen Gwendoline Christie und der in Uganda geborenen Sheila Atim in fließenden seidenen Gewändern. Sie reisen durch Zeit und Raum, vom Palazzo del Te zum postmodernen „Cosmic House“ aus den Achtzigern in London, und gleiten durch die Betonflure des von den Architekten Herzog & de Meuron entworfenen futuristisch-minimalistischen Hauses der Kunstsammler Kramlich im kalifornischen Napa Valley.
Für das Skript der Göttinnen beziehen sich Julien und sein langjähriger Kollaborator und Partner Mark Nash, mit dem er als Professor das „Moving Image Lab“ an der University of California Santa Cruz leitet, auf einen komplexen theoretischen Überbau aus Texten zur Zukunft der Menschheit von Schriftstellerinnen und Philosophinnen, deren Ideen heute in akademischen Kreisen viel diskutiert werden.
Donna Haraway, die Kultautorin und emeritierte Professorin am Institut für Bewusstseinsgeschichte in Santa Cruz, liest zu Beginn des Multiscreen-Films selbst die ersten Zeilen aus ihrer einflussreichen, 2016 publizierten Multispeziesstudie „Staying with the Trouble“ (auf Deutsch „Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän“) vor.

Darin fordert Haraway die Abflachung jeglicher Hierarchien zwischen Menschen und allem, was sie umgibt. Für Haraway ist eine anthropozentrische Perspektive, die den Menschen als Ursache aller Veränderungen in den Mittelpunkt stellt, für unser zerstörerisches Verhältnis zur Natur verantwortlich. Gleichzeitig stellt sie vorherrschende Apokalypse-Narrative infrage. Praktiken der „Weltgewandtheit“ sollen uns helfen, nicht einem unproduktiven Glauben an Unvermeidlichkeit zu verfallen.
Eine neue Religion soll die Welt retten
Mit seiner Installation wird Julien zum Übersetzer von Haraways Ideen, die so ein breiteres Publikum erreichen. Außerdem zieht er den Roman „Memoirs of a Spacewoman“ (1962) der Schottin Naomi Mitchison heran: Gwendoline Christie verkörpert eine zeitreisende Wissenschaftlerin, die von ihrer Erforschung außerirdischen Lebens erzählt. Ihre Reise durch Raum und Zeit ist vor allem eine innere Erfahrung, die aus Lernen, Zuhören und Transformation durch den Kontakt mit dem Anderen besteht.
Sheila Atims Göttin ist inspiriert von dem Roman „Parable of the Sower“ (1993) der afroamerikanischen Science-Fiction-Autorin Octavia E. Butler. Er erzählt die Geschichte einer visionären Teenagerin, die im Jahr 2024 eine neue Religion gründet, um eine Welt zu retten, die durch Klimawandel, wachsende Vermögensungleichheit, systemische Gewalt und den Zusammenbruch sozialer Strukturen verwüstet wurde. Atim berichtet im Interview, wie das Projekt auch sie verändert habe: „Der Satz in Haraways Buch, dass unsere Aufgabe darin besteht, in einer dichten Gegenwart und miteinander gut zu leben und zu sterben, hat mich als etwas Umsetzbares angesprochen, dass ich in mein Leben übernehmen kann. Ich kann versuchen, einen Weg zu finden, mit meinem Nächsten zusammenzuleben. Zu verstehen, was wir kontrollieren können und was nicht, ist wichtig, um sich selbst in das große Ganze einordnen zu können.“
Die „Gigantomachia“ aus Ovids „Metamorphosen“ repräsentiert das menschliche Verlangen nach göttlicher Unsterblichkeit und Macht. Die Erde, Gaia, wird von ihren eigenen Schöpfungen herausgefordert, und Romanos Szenen von Chaos und Unterdrückung im Palazzo del Te hallen bis in die Gegenwart nach. Juliens poetische Vision lädt uns ein, das Thema der Metamorphose aus einer postanthropozentrischen Perspektive zu betrachten und uns nicht davor zu fürchten, darüber nachzudenken, wie eine Koexistenz mit einer beschädigten Erde möglich ist. Er will, wie Haraway es fordert, „Unruhe“ stiften.
Isaac Julien. All That Changes You. Metamorphosis. Palazzo del Te, Mantua; bis 1. Februar 2026. Kein Katalog.
Source: faz.net