Irans gefährlicher Abschreckungspoker: Raketen hinauf Israel
Es sei eine „entschiedene Antwort“ auf die israelischen „Aggressionen“ gegeben worden, sagte Präsident Massud Peseschkian. Er hatte eigentlich zu denen gezählt, die zur Zurückhaltung mahnten – mit dem Argument, Iran dürfe nicht in die Falle des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu tappen, der die Islamische Republik in einen Krieg hineinziehen wolle, an dem sich dann auch die Vereinigten Staaten beteiligen würden.
Nach dem Raketenangriff sprach Peseschkian von Selbstverteidigung und sagte an die Adresse Netanjahus, Iran wolle keinen Krieg, werde sich aber jeder Bedrohung entschieden entgegenstellen.
Offenbar hatten sich andere Kräfte im Regime durchgesetzt – jene, die verlangten, ein Zeichen der Stärke zu setzen, um die eigene Abschreckungsfähigkeit wiederherzustellen. Diese hatte massiv gelitten, weil Israel dem Land zuletzt einige harte und demütigende Schläge versetzt hatte: das Attentat auf Hamas-Führer Ismail Haniyeh in Teheran, den Luftangriff auf das Hauptquartier der Hizbullah, des wichtigsten Verbündeten, bei dem deren Anführer Hassan Nasrallah, ein enger Vertrauter des iranischen Obersten Führers Ali Khamenei, getötet wurde. Außerdem wurde an der Seite Nasrallahs ein General der Revolutionswächter getötet, der für die Bewaffnung der Hizbullah und die Koordination mit anderen irantreuen Milizen in der Region zuständig gewesen sein soll.
„Kämpfen, um inneren Frieden zu haben“
Den Vertrauensverlust in Teheran zeigten schon Reaktionen aus der schiitischen Hizbullah-Klientel in Beirut. Von „Verrat“ war da nach dem Angriff auf Nasrallah die Rede. Iran, eigentlich die Führungs- und Schutzmacht der israelfeindlichen Allianz, die sich selbst als „Achse des Widerstands“ bezeichnet, hatte sich zurückgehalten.
Israel dagegen hatte der Hizbullah, der wichtigsten Macht in ihrem von den Revolutionswächtern errichteten Schattenreich, Schlag nach Schlag versetzt. Dass Netanjahu in einer Ansprache an die iranische Bevölkerung von einem baldigen Regimewechsel gesprochen hatte, dürfte den Falken in Teheran ein weiteres Argument in die Hand gegeben haben.
Als dann am Dienstagabend der Vergeltungsangriff geführt wurde, verbreitete das iranische Staatsfernsehen Bilder von Jubelfeiern. In Beirut waren Freudenschüsse zu hören. „Manchmal muss man in den Krieg ziehen, um Frieden zu schaffen, muss man kämpfen, um inneren Frieden zu haben“, lautete eine Parole, die aus dem Lager der Konservativen in den sozialen Medien ausgegeben wurde. Dabei ist es alles andere als sicher, dass Teheran sein Ziel, Israel von einer weiteren Eskalation abzuhalten, mit dem Raketenbeschuss erreicht hat.
Im Vergleich zu dem Raketengroßangriff vom April markierte der Schlag vom Dienstagabend eine weitere Eskalation. Damals hatte das Regime dafür gesorgt, dass die Vereinigten Staaten schon Tage vor der Attacke im Bilde waren. Dieses Mal kamen erst Stunden vor dem Angriff öffentliche Warnungen aus Washington. Unter Kommentatoren gab es aber die Lesart, er sei trotzdem so angelegt gewesen, einen regionalen Krieg zu vermeiden. Aber das wäre eine gefährliche Wette.
Die von beiden Seiten verfolgte Strategie, Deeskalation durch Eskalation zu erreichen, hat bislang nie funktioniert. Die Mechanik des Abschreckungswettbewerbs hatte bislang nur Eskalation gebracht. Außerdem haben die vergangenen Wochen gezeigt, dass es kaum möglich ist, einen Konflikt noch zu mäßigen, wenn er eine gewisse Eskalationsstufe erreicht hat.
Israel hat seinerseits eine harte Reaktion angekündigt. Und je nachdem, wie sie ausfällt, könnte sich danach wieder Iran unter Zugzwang sehen. Die Revolutionswächter haben schon eine „vernichtende Antwort“ auf einen etwaigen israelischen Gegenschlag angekündigt. Ein regionaler Krieg scheint so nah wie niemals zuvor.
Irans nukleare Drohkulisse
Teheran war im Abschreckungswettbewerb zuletzt erheblich ins Hintertreffen geraten. Vor allem durch die Schwächung der Hizbullah. Deren Raketen sind ein wichtiger Pfeiler der iranischen Landesverteidigung. Sie dienen als eine Art vorgelagerte Verteidigungslinie im Falle einer direkten militärischen Konfrontation mit Israel, die jetzt so nah ist wie noch nie.
In Beirut wird unter Experten und in Sicherheitskreisen jetzt die Frage diskutiert, wie wirkungsvoll diese angesichts der Schwächung und des andauernden militärischen Drucks noch ist. Die Schiitenorganisation müsste, um ihre Präzisionsraketen ins Ziel lenken zu können, zunächst einmal einen koordinierten Raketen-Großangriff mit umgelenkten, älteren Raketen führen, um die israelische Raketenabwehr zu überfordern.
Dass die Hizbullah dazu derzeit überhaupt in der Lage wäre, daran herrschen erhebliche Zweifel. Weil Irans Schattenarmee arabischer Milizen zuletzt an Schrecken verloren hat, könnte sich Teheran nun stärker auf Abschreckung durch den Griff nach der Atombombe verlegen. Schon seit Monaten zimmert das Regime an einer nuklearen Drohkulisse. Auch wenn die Fakten dem eindeutig widersprechen, behauptet Teheran steif und fest, sein Atomprogramm diene nur zivilen Zwecken.
Den Einsatz von Atomwaffen hatte Khamenei selbst in einem Rechtsgutachten als unislamisch ausgeschlossen. Ahmad Haghtalab, der für die Sicherheit der iranischen Nuklearanlagen zuständige Kommandeur der Revolutionswächter, sagte indes im April, man müsse prüfen, ob es notwendig sei, „von unseren bisherigen Überlegungen abzuweichen“.
Aber auch der Griff nach dem nuklearen Hebel ist eine gefährliche Wette. Denn Benjamin Netanjahu hat seit Jahren keinen Zweifel daran gelassen, dass die Verhinderung einer iranischen Atombombe, gegebenenfalls auch durch einen Militärschlag, sein vielleicht wichtigstes Anliegen ist.
Source: faz.net