Interview | Zerstörung als Methode: Sergei Loznitsa über seinen Dokumentarfilm „Luftkrieg“

In seinem Dokumentarfilm Luftkrieg – Die Naturgeschichte der Zerstörung thematisiert der ukrainische Regisseurs Sergei Loznitsa die verheerenden Bombardierungen deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg.. Ausschließlich mit unkommentierten Archivaufnahmen arbeitend, setzt er sich darin mit der heiklen Frage auseinander, inwieweit es moralisch vertretbar ist, die Kriegsführung auf die Zivilbevölkerung auszuweiten, um ein Regime zu besiegen. Der 58-jährige Regisseur, der seit 2001 in Berlin lebt, beendete seinen Film vor dem Einmarsch der Russen in der Ukraine, in seiner eindringlichen Auseinandersetzung mit Krieg, Zerstörung und zivilem Leid ist Luftkrieg zeitlos. Thomas Abeltshauser hat mit Sergei Loznitsa per Videoschaltung in Vilnius gesprochen, wo er derzeit an einem Dokumentarfilm über den Krieg in der Ukraine arbeitet.

der Freitag: Herr Loznitsa, Ihr Film ist inspiriert von W. G. Sebalds Buch „Luftkrieg und Literatur“– inwiefern?

Sergei Loznitsa: Sebald stellt in seinem Essay zwei fundamentale Fragen: Haben wir verstanden, was damals passiert ist? Und wie gehen wir damit um? Er analysiert, wie die deutsche Nachkriegsliteratur auf dieses Trauma reagiert hat, und kommt zu dem Schluss, dass es zwischen der Wahrnehmung und den tatsächlichen Geschehnissen eine große Diskrepanz gibt.

Ihr Film behandelt dabei konkret die Luftangriffe der Alliierten, die sich gezielt gegen die Zivilbevölkerung in den Städten richteten. Sie sagen, das sei noch immer ein Tabu in Deutschland. Warum?

Weil die allermeisten Deutschen um ihre historische Schuld wissen. Das Dritte Reich war eine Diktatur und Kriegstreiber, die Nazis begingen millionenfach Kriegsverbrechen und die Bevölkerung nahm daran teil oder sah zumindest zu. Dieses Verständnis der eigenen Kollektivschuld macht es schwer bis unmöglich, sich damit auseinanderzusetzen, inwieweit die Angriffe auf Zivilisten gerechtfertigt waren, um das Naziregime zu stoppen. Auch wenn sich mein Film auf einen Krieg konzentriert, ist es eine Erfahrung, mit der sich jeder Mensch mit Gewissen und Empathie auseinandersetzen muss. Das heißt keinesfalls, alles andere Kriegsleid zu ignorieren. Was ich im Film zeige, ist ein Muster, das sich wiederholt. Auch heute tötet das russische Militär in der Ukraine gezielt die Bevölkerung. Und die Welt sieht hilflos dabei zu, findet keine Mittel, das zu verhindern. 143 Mitglieder der Vereinten Nationen haben eine Resolution verabschiedet, die Russlands Aktionen scharf verurteilt. Und jetzt? Sie haben keine Macht, der Krieg geht weiter. Es ist kein Ende in Sicht, zumindest sehe ich keines.

Sie haben an dem Film gearbeitet, lange bevor Russland die Ukraine im Februar 2022 überfiel. Inwieweit hat der Krieg die Wahrnehmung Ihres Films beeinflusst?

Angesichts dieser Bilder von vor 80 Jahren stellen wir als Europäer fest, dass sich seitdem wenig geändert hat. Vieles davon geschieht heute wieder, weil wir keine Lehren daraus gezogen haben. Der US-Schriftsteller Kurt Vonnegut schrieb Schlachthof 5 über die Luftangriffe auf Dresden und wurde dafür in den USA stark angegriffen. Und Heinrich Bölls Roman Der Engel schwieg über das zerstörte Köln, 1949 geschrieben, konnte erst 1992 postum erscheinen. Auch Sebalds literaturhistorische Studie, 1999 erschienen, in der er die Bombardierung als gesellschaftliches Tabu bezeichnete, wurde sehr kontrovers aufgenommen. Weil es nie richtig aufgearbeitet wurde, ist es bis heute so leicht für Propagandazwecke zu missbrauchen.

Wie haben Sie das Material gefunden und montiert?

Ich folge dabei der Vertov-Schule: Zuerst ist die Idee da, dann folgt das Material. Wenn ich dem Konzept Zerstören als Kriegsführung folge, basiert die ganze Struktur meines Films darauf. Deswegen interessiert mich Chronologie nicht, sie würde nur ablenken. Jede teilnehmende Partei sieht die Vernichtung der Zivilbevölkerung als eine legitime Möglichkeit der Kriegsführung. Deswegen ist es mir im Film nicht wichtig, welche Stadt von welcher Armee in welchem Jahr bombardiert wurde, ob Bremen, Dresden, Hamburg, Köln oder Berlin.

Sie präsentieren das Material ohne jeden Kommentar oder Schrifteinblendungen, um den Kontext herzustellen. Es setzt historisches Wissen des Publikums voraus, dem selbst überlassen ist, das Gesehene einzuordnen. Birgt das nicht die Gefahr des Missverstehens?

Dieses Risiko hat jedes Kunstwerk. Der Zweck der Kunst ist nicht, zu erziehen oder zu erklären, sondern Fragen zu stellen, Reflexion zu provozieren. Ein Film ist kein Geschichtsbuch.

Eingebetteter Medieninhalt

Zu Beginn des Krieges haben Sie aus Protest die Europäische Filmakademie verlassen, weil sie sich nicht klar genug mit der Ukraine solidarisierte. Die Ukrainische Filmakademie wiederum hat Ihnen die Mitgliedschaft entzogen, weil Sie sich gegen einen Totalboykott russischer Kunst aussprachen. Wie hat sich die Situation seitdem entwickelt?

Verglichen mit dem, was in der Ukraine seitdem passiert, ist beides nicht signifikant. Die Ukrainische Filmakademie ist eine private Organisation, die nur einen Teil der Filmemacher repräsentiert. Die Europäische Filmakademie wiederum verließ ich, weil ihre erste Stellungnahme viel zu mild war und auch wenn sie den Text zurückgezogen und durch ein sehr viel deutlicheres Statement ersetzt hat, war meine Entscheidung damals richtig. Weil es nie eine ernsthafte öffentliche Debatte gab, ist auch der Streit um den Boykott russischer Kunst nicht gelöst. Auf jedem Filmfest, in jedem Theater, auf jeder Kulturveranstaltung gibt es erbitterte Kämpfe, ob ein Werk oder eine Person nur deswegen ausgeschlossen werden darf, weil sie aus Russland stammen. Völlig ungeachtet, wie relevant oder talentiert, nur weil jemand das Pech hatte, dort geboren zu sein oder den russischen Pass zu haben, wird ihre Arbeit boykottiert. Es ist kompletter Nonsens. Was haben Putin und seine Barbaren mit Tschechow, Dostojewski und Tschaikowski zu tun?

Wie ist es Ihnen persönlich ergangen?

Ich habe einen weiteren Dokumentarfilm fertiggestellt, der im September in Venedig Premiere hatte, The Kiev Trial über den sowjetischen Kriegsverbrecherprozess in Kiew 1946. Danach war ich vier Monate am Theater in Vilnius und habe ein Stück nach dem Roman Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell geschrieben und inszeniert. Und nun drehe ich einen Dokumentarfilm über die Folgen des Kriegs auf die ukrainische Gesellschaft.

Inwieweit hat die Arbeit mit Archivmaterial bei „Luftkrieg“ und „The Kiev Trial“ Ihren derzeit entstehenden Film beeinflusst?

Das Material und die Herangehensweise sind komplett verschieden. Die Aufnahmen heute sind meine eigenen, meine Perspektive, meine Art zu filmen, ganz gegenwärtig und ganz anders als das historische Material bei den beiden Filmen zuvor. Auch bei Luftkrieg gibt es übrigens große Unterschiede zwischen den Filmen der Alliierten und den Aufnahmen, die von den Deutschen stammen. Alles ist relevant: die Position der Kamera, die Lichtsetzung, die Bildkomposition. Da treffen zwei Methoden aufeinander, die demokratische, freiere der Amerikaner und Briten sowie die totalitäre, hierarchische Filmsprache der Deutschen.

Gibt es schon einen Titel für den neuen Dokumentarfilm? Oder hängt es von der weiteren Entwicklung der Situation ab?

Der steht fest, ganz egal wie sich die Lage entwickelt, und ist ganz simpel: The Invasion.

Haben Sie ein Jahr nach Kriegsbeginn noch Hoffnung?

Die Menschen in der Ukraine werden bis zuletzt kämpfen, aber alles hängt davon, ob die Welt nur zusieht oder sich einmischt. Der Krieg wird nur enden, wenn es einen Regimewechsel in Russland gibt. Selbst wenn es einmal eine Art von Waffenstillstand geben sollte, schwebt die Bedrohung über der Ukraine, solange Putin an der Macht ist.

Zur Person

Atmos&Void

Sergei Loznitsa wurde 1964 in Weißrussland geboren, ist in Kiew aufgewachsen und hat die Filmhochschule in Moskau absolviert. Mit dem dokumentarischen Kurzfilm Heute bauen wir ein Haus gewann er die Goldene Taube beim Dokfest Leipzig. Seit Anfang der 200oer lebt er in Berlin

Luftkrieg – Die Naturgeschichte der Zerstörung Sergei Loznitsa Deutschland 2023; 112 Minuten