Internetkultur: So süßlich geht die Welt unter

Es hat dieser Tage einen bitteren Beigeschmack, wenn man sich durchs Netz bewegt. Katzenbabys betteln um ein paar Likes, Hundewelpen bitten fiepend um Kommentare, und sogar der Vatikan verfügt neuerdings über ein süßes Anime-Maskottchen namens Luce, dessen blaue Kulleraugen sich bestimmt mit Tränen füllen, wenn nicht alsbald genügend Heiden zu seiner schwächelnden Kirche konvertieren. Und wenn schon die größte Religionsgemeinschaft der Welt mit den Waffen der Niedlichkeit um unsere Aufmerksamkeit buhlt, was passiert hier gerade? Warum geben diese hässlichen Zeiten bloß vor, so süß – oder, um es englisch noch etwas künstlicher klingen zu lassen – cute zu sein? 

Weil es nett anzuschauen ist, will man zunächst einmal antworten – und auf die Verwandtschaft des Niedlichen zum Schönen verweisen. Alles Ästhetische wollte sich der Mensch schließlich schon angucken, als er noch gar keinen Begriff dafür (oder sonst etwas) hatte, und im Idealfall Wohlgefallen daran finden. Und nach Wohlgefallen und etwas süßer Muße sehnen wir uns doch in einer Welt, die mit unschönen Finanzkrisenhässlich agierenden Politikern und scheußlichen Kriegen den meisten Zeitgenossen missfallen dürfte.

Damit ist allerdings nur der Wunsch nach Schönheit erklärt, der Aufstieg der Cuteness aber erklärt sich erst, wenn man sie von ebenjener Schönheit abgrenzt. Denn wo uns das Schöne zuweilen zwar beeindruckt, aber in seiner Erhabenheit auch distanziert erscheint, rückt uns das Niedliche in seiner Harmlosigkeit nahe. Eines der vielen Synonyme von „niedlich“ lautet „knuffig“, und in diesem Begriff wird bereits die besondere Nähe beschrieben, die süße Bilder zu ihrem Betrachter herstellen: Was wir süß finden, wollen wir knuddeln, streicheln und liebkosen. Mögen sie besonders weich oder besonders flauschig, herrlich glatt oder wohlig kraus sein – Bilder von cuten Gegenständen, Menschen und Tieren haben eine taktile Suggestivkraft; wir können nicht anders, als uns die Sinneserfahrung ihrer Berührung vorzustellen. In die sterile Welt des Internets lässt das Niedliche den Anschein von Intimität einkehren, den immer gleichen glatten Bildschirmen unserer Smartphones und Tablets ringt es wuschelige, warme und weiche Erlebnisse ab. 

Doch so nahbar alle Cuteness auch daherkommt, so künstlich ist sie heute meist auch. Tierbabys mögen zwar schon an und für sich äußerst süß sein, aber dieses Attribut lässt sich artifiziell noch weiter steigern. Die reinste Niedlichkeit ist heute immer auch künstlich: Man übertreibt sämtliche cute Eigenschaften eines Objekts. Bei der Zeichnung einer Katze werden dann beispielsweise die Pfötchen vergrößert, der Torso verkleinert, die Augen pumpt man zu gigantischen Dimensionen auf oder schrumpft sie zu winzigen Knöpfchen. Eine Katze ist süß, Hello Kitty ist cute. Und während die japanische Popikone noch in mühsamer Hand- und Kopfarbeit entworfen werden musste, lassen sich heute vergleichbare Geschöpfe durch die Leistungsfähigkeit künstlicher Intelligenzen per Knopfdruck generieren. Kein Wunder, wenn da die cute Wirtschaft floriert.

Schönheit ist teuer, Cuteness ist Ware

Reine Cuteness ist also kein Naturprodukt, sondern eine Ware, die immer als Käufliche oder Sich-Verkaufende erscheint. Es ist, so schreibt die Kulturwissenschaftlerin Lori Merish, „immer in gewisser Weise eine Ware auf der Suche nach ihrer Mutter“. Denn das Harmlose, Naive und Kindliche des Süßen löst in uns unmittelbar Beschützerinstinkte aus – und Schutz ist eben auch immer eine Art des Aneignens und Verfügens. Der Kapitalismus, ein schlauer Meister, weiß das zu nutzen, um uns zum Kauf von der Ware zu verführen. Cuteness wertet das Billige ästhetisch auf. Schönheit, Raffinesse oder Eleganz können das auch, doch sie sind arbeitsintensiv und teuer, brauchen Handwerk und Kunstverständnis. Niedlichkeit hingegen ist einfach. Darum sind Maskottchen und Merchandise-Produkte so oft auf cute getrimmt: Mit Pastellfarben, Rehaugen und Blumenmustern steigert man rasch die Marge von Ramsch.

Der zugrunde liegende Mechanismus dafür drückt sich in dem gutturalen „Awwww …!“ aus, das jedem von uns entfährt, wenn wir Tierbabys oder Baby Yoda sehen. Das Niedliche wirkt schnell und ist emotional für jeden lesbar – in Zeiten aufmerksamkeitsökonomischer Überlastung ein Cheatcode zu schnellem Erfolg. Nirgends ist das so wichtig wie in den bodenlosen Feeds des Digitalen. Glänzende Augen, runde Formen, Plüschiges oder Geknautschtes, Argloses bis Idiotisches: Heute ist das Internet unumstrittener Hauptwohnsitz von Cute. Denn an allem können wir vorbeiscrollen, immer tiefer und weiter – nur eben nicht an Cuteness.

Doch hier, zwischen Stupsnasen und Schlappohren, versteckt sich schon der erste Hinweis auf den widersprüchlichen Charakter der Cuten: Es kontrolliert, indem es sich als kontrollierbar anbietet; es manipuliert durch ein Versprechen von Nicht-Manipulation. Die performative Ehrlichkeit lässt es als Gegenentwurf zur unaufrichtigen Welt erscheinen – in Wahrheit aber kuschelt es sich gewieft in eine evolutionäre Nische und transzendiert sie marktwirtschaftlich. Um fremde, schreiende und stinkende Babys kümmern wir uns, weil sie süß sind; und billige, völlig unnötige Handyhüllen mit kulleräugigem Häschenaufsatz kaufen wir, weil sie cute sind.