Inflation: Ökonom hält zweistellige Lohnforderungen für nachvollziehbar

Teilnehmende an Ver.di-Warnstreik in Hannover
Foto: Ulrich Stamm / IMAGO/Future Image
Pauschal 500 Euro im Monat mehr, mindestens jedoch 10,5 Prozent fordern Ver.di und Co. in der aktuellen Tarifrunde im öffentlichen Dienst. Bei der Bahn will die Eisenbahngewerkschaft EVG sogar 650 Euro beziehungsweise mindestens zwölf Prozent erstreiten. Zweistellige Lohnforderungen hat es in den vergangenen Jahren kaum gegeben – doch angesichts der stark gestiegenen Inflation sind sie nach Einschätzung eines Wirtschafswissenschaftlers nicht aus der Luft gegriffen.
Im vergangenen Jahr machte die Inflation den Lohnanstieg zunichte, die Reallöhne der Arbeitnehmer in Deutschland sanken um 3,1 Prozent. »Wenn die Arbeitnehmerseite in den aktuellen Lohnverhandlungen das Ziel verfolgt, diesen Reallohnverlust rückgängig zu machen, sollten die Löhne also mindestens um diese 3,1 Prozent wachsen«, erklärte Friedhelm Pfeiffer vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW).
Wenn es zudem das Ziel der Gewerkschaften sei, die Reallöhne konstant zu halten, dann sei die erwartete Inflation entscheidend. Pfeiffer geht wie auch die Bundesregierung von einer Teuerungsrate von durchschnittlich sechs Prozent in diesem Jahr aus. Damit wäre rechnerisch ein weiterer Lohnzuwachs von sechs Prozent erforderlich. Beiden Komponenten ergäben in Summe eine Forderung von 9,1 Prozent.
Wolle die Arbeitnehmerseite, sagt Pfeiffer, auch die Steigerungsrate der Reallöhne im Mittel der Jahre 2011 und 2021 erreichen, so müssten die Löhne rechnerisch um 10,5 Prozent steigen.
Tatsächlich zeigt die Entwicklung der Tarifverdienste, dass die gesamten realen Steigerungen seit 2015 in den meisten Branchen bereits Ende vergangenen Jahres durch die Inflation aufgezehrt worden sind. Selbst mit einer Anhebung von rund zehn Prozent würden sie – die erwartete Inflation für dieses Jahr mitberücksichtigt – nicht das Niveau des Jahres 2020 erreichen.
Mögliche Arbeitsplatzverluste
»Dennoch ist es wenig wahrscheinlich, dass es zu zweistelligen Lohnabschlüssen kommt«, sagt ZEW-Forscher Pfeiffer. Es gelte auch höhere Lohnabschlüsse und mögliche Arbeitsplatzverluste abzuwägen. In der Summe könnten bei Verdienstzuwächsen von 10,5 Prozent theoretisch 567.000 Arbeitsplätze verloren gehen.
Pfeiffer legte dabei einen in der Arbeitsmarktforschung verbreiteten Schätzwert zugrunde, wonach eine Reallohnerhöhung von einem Prozent zu einem Beschäftigungsrückgang um 0,3 Prozent und umgekehrt eine Reallohnsenkung zu einem Zuwachs von 0,3 Prozent führt. Man könne allerdings davon ausgehen, »dass höhere Löhne auch die Attraktivität der Arbeit verbessern und dem Fachkräftemangel etwas entgegenwirken«, sagte Pfeiffer.
Etwas Druck aus den laufenden Verhandlungen könnte nach Einschätzung des Volkswirtes die von der Bundesregierung eröffnete Möglichkeit einer steuer- und abgabenfreien Einmalzahlung von insgesamt 3000 Euro nehmen. Wenn das Angebot genutzt werde, bleibe den Beschäftigten bei gleichem Brutto mehr Netto.