Im Gespräch | „Prekarisierung wie Werkzeug verdrängt die Solidarität“

Eigentlich hatte Nicole Mayer-Ahuja ein paar Tage Urlaub – aufgrund des regen Interesses an ihrem Buch muss die Professorin aber ihre Zeit für Medienanfragen nutzen. Dass Klassengesellschaft akut. Warum Lohnarbeit spaltet – und wie es anders gehen kann solch eine Aufmerksamkeit weckt, ist kein Zufall: Der Druck auf arbeitende Menschen wächst, viele wählen zugleich jedoch die AfD. Mayer-Ahuja, deren Mutter als Verkäuferin in einer Bäckerei gearbeitet hat, schaut genauer hin. Sie zeigt kenntnisreich auf, was die lohnabhängigen Menschen heute prägt. Deutlich fordert sie eine solidarische Politik, die das Gemeinsame in den Vordergrund stellt.

der Freitag: Frau Mayer-Ahuja, Sie schreiben, dass über Klasse in Deutschland lange kaum gesprochen wurde. Warum war das so?

Nicole Mayer-Ahuja: Das lag vor allem an der Systemkonkurrenz. Die Bundesrepublik wollte zeigen: Anders als die DDR sei sie die wahre klassenlose Gesellschaft. Die Erzählung lautete – auch an Universitäten –, dass man in einer Mittelstandsgesellschaft lebt, wo es keinen Gegensatz mehr zwischen Kapital und Arbeit gibt. Eine Zeit lang überzeugte das auch viele, weil es Vollbeschäftigung, Wirtschaftswachstum und mehr Konsum- sowie Bildungsmöglichkeiten gab. Dass dies nichts an den Grundstrukturen der Klassengesellschaft änderte, bemerkten die Menschen erst wieder in den 1980ern, als die Wirtschaft kriselte und sie ihre Jobs verloren. Seit der Vereinigung beider deutscher Staaten haben sich ökonomische Krisen weiter zugespitzt. Inzwischen ist klar, dass das Versprechen der Boom-Jahre – „sozialer Aufstieg für alle“ – nicht zu halten ist.

Seit einigen Jahren ist der Klassenbegriff nun wieder zurück. Woran liegt das?

Einen ersten Aufschwung gab es schon Anfang der 2000er: Mit Hartz IV und Agenda 2010 wurde die soziale Absicherung massiv beschnitten. Mit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 kam dann ein weiterer Schub, ausgelöst durch verschärfte soziale Konflikte. Auffällig ist auch, dass sich in den Jahren danach viele populärwissenschaftliche Bücher mit dem Thema Klasse beschäftigten. Rückkehr nach Reims von dem französischen Soziologen Didier Eribon war hier ein Türöffner. Aber auch darüber hinaus gab es eine ganze Reihe von Lebensbeschreibungen und Erfahrungsberichten, in denen es darum ging, wie Klasse Lebenschancen prägt und beschneidet – in der Arbeitswelt und darüber hinaus.

Wie ist das abseits feuilletonistischer oder universitärer Debatten?

Interessanterweise bezeichnen sich Beschäftigte teilweise selbst als „Arbeiter*in“ oder sogar als Teil einer „Arbeiterklasse“, obwohl es im Recht oder in Tarifverträgen den Begriff „Arbeiter*in“ nicht mehr gibt. Viele, die ihn etwa zur Selbstbeschreibung bei Wahlbefragungen nutzen, wollen damit sagen: viel Leistung, wenig Anerkennung, wenig Geld. Dieses Bild ist in den Köpfen offenbar fest verankert, obwohl in Wissenschaft und Politik der Klassenbegriff weiterhin gemieden wird – viel stärker übrigens als in anderen europäischen Ländern.

Das ist die Selbstbeschreibung. Wie definieren Sie Klasse?

Die tiefste gesellschaftliche Spaltungslinie verläuft für mich weiterhin zwischen Arbeit und Kapital. Also zwischen denjenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um zu überleben – und jenen, die das nicht müssen und die Möglichkeit haben, fremde Arbeitskraft einzukaufen. Statistisch machen Lohnabhängige über 90 Prozent der Bevölkerung aus. Die würde ich die arbeitende Klasse nennen. Diese besteht natürlich aus Menschen mit ganz unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen, Lebenswegen, Hintergründen. Und sie ist nicht statisch – die sozialen Beziehungen zwischen den Geschlechtern, alten und jungen, einheimischen und migrantischen Beschäftigten und so weiter verändern sich permanent. Hier finde ich die Frage spannend, was diese Menschen eigentlich gemeinsam haben – und wovon es abhängt, ob sie das selbst so sehen.

Was verbindet beispielsweise einen Ingenieur und eine Reinigungskraft?

Die Unterschiede sind offensichtlich: gutes Einkommen, Boni, Festanstellung hier – „Minijob“ zu Niedriglohn dort. Typischerweise sind Ingenieure eher Männer, Reinigungskräfte eher Frauen und oft Migrant*innen. Manches haben die beiden Gruppen jedoch auch gemeinsam: Sie müssen ihre Arbeitskraft verkaufen, müssen im Arbeitsprozess auf Anweisung arbeiten, und beide müssen darum kämpfen, ihre Arbeit gut machen zu können.

Was meinen Sie damit?

Für viele Beschäftigte ist es schwierig, ihre Ansprüche an gute Arbeit umzusetzen. Der Ingenieur macht etwa Projektarbeit, doch die Zeitfenster dafür sind immer zu knapp kalkuliert. Die Kunden fordern schnelle Ergebnisse, heißt es dann oft von Vorgesetzten. In der Autoindustrie sagen Arbeiter*innen: Wir könnten bessere Autos bauen, wenn man uns lässt. Für Firmen ist aber der Preis oft wichtiger als die Qualität – und Zeit ist Geld. Ganz ähnlich sieht es etwa im Einzelhandel oder der Reinigungsbranche aus. Ich kenne Gebäudereinigerinnen, die peinlich berührt sind, wenn sie „runde Ecken“ putzen, also Gebäude aus Zeitmangel halb dreckig hinterlassen müssen. Stolz sein zu wollen auf die eigene Arbeit, aber es unter den realen Bedingungen nicht sein zu können, schafft enormen Leidensdruck. Diese Erfahrung verbindet Beschäftigte in ganz unterschiedlichen Teilen der Arbeitswelt.

Stichwort Arbeitsprozess: Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass dieser oft auch eine ambivalente Rolle für politische Einstellungen hat. Warum ist das so?

Einerseits arbeitet man im Betrieb mehr oder minder fremdbestimmt in einem nichtdemokratischen Raum und sieht, dass der eigene Einsatz vor allem den Profit anderer vergrößert. Wer sich ohnmächtig fühlt und meint, dass die eigene Leistung nicht anerkannt wird, macht laut Umfragen besonders häufig das Kreuz bei der AfD. Andererseits muss man im Arbeitsprozess eng zusammenarbeiten, um das erwünschte Ergebnis zu erzielen. Das schafft auch eine Grundlage für gegenseitige Unterstützung und kollegiale Verbundenheit. Welche Erfahrung überwiegt, hängt eng mit der Organisation der Arbeit zusammen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Denken wir etwa an Gruppenarbeit in der Industrie. Dabei wird Verantwortung von der Managementebene „nach unten“ zu den Arbeiter*innen der Produktion verlagert. Dadurch steigen Druck und Arbeitsverdichtung – es soll ja alles effizienter werden. Gleichzeitig werden dabei Spielräume für Selbstorganisation und mehr Möglichkeiten geschaffen, eigene Kompetenzen einzubringen. Wenn Arbeiter*innen über Gruppenarbeit sprechen, sagen sie etwa, dass dabei alle auf Augenhöhe zusammenarbeiten und den „Wasserkopf“ – also das Management – gar nicht brauchen. Die Realität sieht natürlich anders aus – aber in diesem Spannungsverhältnis zeigen sich Vorstellungen von Beschäftigten, wie die Arbeitswelt eigentlich sein könnte.

Ein weiterer Trend ist Prekarisierung. Was macht das mit Solidarität im Betrieb?

Prekarisierung ist ein Werkzeug, um Solidarität zurückzudrängen. Eine Firma hat beispielsweise eine Stammbelegschaft und Leiharbeiter*innen. Die Absicherung der einen beruht darauf, dass die anderen in Krisenzeiten als Puffer genutzt und schnell entlassen werden können. Die Spaltung der Belegschaft wird damit auf die Spitze getrieben, letztlich werden so Standards für alle gesenkt. In der Praxis ist es allerdings oft gar nicht so leicht zu erkennen, wer für die Leiharbeitsfirma arbeitet und wer zur Stammbelegschaft gehört. Die Menschen arbeiten Seite an Seite – und haben dieselben Probleme.

Wie ist da gegenseitige Unterstützung möglich?

Die braucht es ja jeden Tag im gemeinsamen Arbeitsprozess. In vielen Krankenhäusern wurde von der Kantine über den Bettentransport bis zur Wäscherei alles ausgelagert – aber nur, wenn alle eng zusammenarbeiten, kann die Versorgung von Kranken funktionieren. Auf Basis dieser Erfahrung ist es dann auch möglich, dass etwa Pflege- und Reinigungskräfte sich trotz organisatorischer Spaltung in Arbeitskämpfen unterstützen.

Was ist das Erfolgsrezept?

Die zentrale Frage ist, mit wem man sich verbunden fühlt – und von wem man sich abgrenzt. Haben Beschäftigte eher das Gefühl, dass sie mit dem Management in einem Boot sitzen, weil sie den Standort verteidigen müssen – oder halten Belegschaften standortübergreifend gegen Stellenabbau zusammen? Sieht man sich vor allem als Teil der deutschen Nation – oder als Teil einer arbeitenden Klasse, zu der eben auch migrantische Beschäftigte gehören? Die Frage ist, wie eine solidarische Politik der Arbeit aussehen kann, die dazu beiträgt, dass das, was Arbeitende verbindet, schwerer wiegt als Unterschiedlichkeit und Konkurrenz. Kollektive Standards spielen eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, das „Wir“ der Lohnabhängigen zu erweitern. So ist rassistische Hetze in Unternehmen, wo Betriebsrat und Tarifvertrag für alle da sind, deutlich weniger erfolgreich als im politischen Raum.

Was könnten Gewerkschaften darüber hinaus politisch machen, um solidarische Beziehungen zu fördern und Klasseninteressen zu schützen?

Eine andere Arbeitszeitpolitik wäre ein konkretes Projekt, das Gewerkschaften angehen sollten. Wir sehen seit Jahren, dass Vollzeitbeschäftigte massiv Überstunden beklagen und viele gerne weniger arbeiten würden. In prekären Branchen wie Einzelhandel oder Reinigung haben dagegen viele Beschäftigte Teilzeit- oder „Minijobs“ und würden gerne mehr arbeiten. Auf beiden Seiten passt die Arbeitszeit nicht zum Leben. Eine 30-Stunden-Woche für alle – das wäre verbindende Politik.

Würde nicht auch bei Regierungen theoretisch Verantwortung liegen, Spaltungen abzubauen?

Klar kann staatliche Politik dazu beitragen, die Konkurrenz zwischen Beschäftigen und auch das Machtgefälle zwischen Arbeit und Kapital zu reduzieren. Gut ausgestattete Sozialsysteme können zum Beispiel sicherstellen, dass Menschen nicht bis zum Umfallen arbeiten und jeden Job annehmen müssen, um zu überleben. Und der gesetzliche Mindestlohn hat den Niedriglohnsektor ja tatsächlich zumindest etwas zurückgedrängt. Auch das ist verbindende Politik, die eine Ausweitung von demokratischer Mitbestimmung in der Arbeitswelt überhaupt denkbar macht. Leider geht die Entwicklung seit Jahrzehnten in die entgegengesetzte Richtung, und aktuell wird mit neuem Schwung zum Angriff auf Arbeitszeitgesetz, Bürgergeld und Rentenversicherung geblasen. Aber es bleibt dabei: Eine andere Politik ist möglich.

Für eine andere Politik bräuchte es starke linke Organisationen. Was sollten diese beachten?

Man muss klarmachen, gegen wen eine solidarische Politik der Arbeit durchgesetzt werden muss. Etwas mehr Mindestlohn zu fordern, genügt nicht – linke Politik muss benennen, wer den Niedriglohnsektor politisch geschaffen hat und dass die Armutslöhne, von denen Unternehmen profitieren, durch das Sozialeigentum von Lohnabhängigen subventioniert werden („Aufstocker“). Außerdem muss das Thema Arbeit insgesamt eine größere und teilweise auch andere Rolle spielen.

Inwiefern?

Statt nur bestimmte Gruppen anzusprechen, müsste es um die arbeitende Klasse als Ganzes gehen. Natürlich muss linke Politik für prekär Beschäftigte und Arme eintreten – aber man sollte sie nicht als „Opfer der Verhältnisse“ ansprechen, sondern als Arbeitende, die sich organisieren und Besserung erstreiten können. Auch Festangestellte brauchen linke Politik: Weil sie um den Job fürchten; weil der Arbeitsdruck immer weiter zunimmt; weil Leistungen nicht anerkannt und professionelle Standards verletzt werden.

Es wirkt, als ob derzeit einerseits zwar mehr über Klassen gesprochen wird, andererseits die reale Klassenmacht aber weiter sehr gering ist. Wie sehen Sie das?

Beides stimmt. Trotzdem sollten wir uns daran erinnern, dass Prozesse von Klassenformierung auch in Zeiten stattfinden, in denen der Druck auf Beschäftigte wächst. Der britische Historiker E.P. Thompson hat gezeigt, dass sich die arbeitende Klasse zwischen dem Ende der Französischen Revolution bis etwa 1830 unter Bedingungen von politischer Unterdrückung und ökonomischer Depression herausgebildet hat. Auch neue Solidaritätsstrukturen entstanden, doch für die Zeitgenoss*innen war das nicht unbedingt erkennbar – es wurde erst im Rückblick deutlich. Auch heute verändert die arbeitende Klasse ihr Gesicht, werden Machtverhältnisse permanent neu austariert. In welche Richtung das geht, ist eine offene Frage.

Was erwarten Sie für die Regierungsjahre unter Merz?

Aktuell ist viel Druck auf dem Kessel. Angst und Ohnmachtsgefühle nehmen zu. Wir müssen davon ausgehen, dass sich Verteilungskämpfe um öffentliche Gelder, Konflikte um Arbeitszeit und auch um Mitbestimmungsrechte und Streik zuspitzen werden. Die rasante Militarisierung ist keine gute Nachricht für die arbeitende Bevölkerung. Wenn man nichts unternimmt, wird das den Kampf aller gegen alle noch verstärken. Politisch heißt das: weiterer Rechtsruck. Die entscheidende Frage ist: Können wir den Kurs ändern – und solidarische Alternativen wieder denkbar machen?

Nicole Mayer-Ahuja (Jahrgang 1973) ist Arbeitssoziologin und Professorin an der Universität Göttingen. Gerade erscheint ihr Buch Klassengesellschaft akut. Warum Lohnarbeit spaltet – und wie es anders gehen kann (C.H. Beck, 279 S., 26 €). 2021 gab sie mit Oliver Nachtwey Verkannte Leistungsträger:innen (Suhrkamp, 567 S., 22 €) heraus