Identität | Ostdeutschland auf Augenhöhe? Erst wenn Westdeutsche „neokoloniale Attitüde“ ablegen
Die Perspektive von DDR-Bürger:innen auf den Einheitsprozess, der auf die Friedliche Revolution im Herbst 1989 folgte, war keineswegs allzu optimistisch: „In vielem sind wir unwissend. Wir wissen nicht, wie es sich tatsächlich in einer ‚anderen‘ Gesellschaft leben lässt. Aber auch ich möchte nicht einfach übernommen werden.“ „Wir sitzen wie das Kaninchen vor der Schlange (…).“ „Nichts, was hier existierte, darf bestehen bleiben. Alles wird systematisch vernichtet und dann ‚viel besser‘ wieder aufgebaut.“ „Was jetzt kommt, für die meisten hier, wird nur durchzustehen sein mit viel Verstand und möglichst wenig Gefühl.“
Wer immer noch denkt, die „Ossis“ hätten das doch alles so gewollt, wie es gekommen ist, dem seien die Briefe aus der DDR 1989 – 1990 empfohlen. Sie vermitteln ein konkretes Bild davon, was DDR-Bürger:innen in jenen Tagen bewegte. Tage, in denen ihre Welt aus den Angeln gehoben wurde. Man möchte diesen Band zur Pflichtlektüre erheben, denn er vermag es, einerseits die Ostdeutschen mit sich selbst und ihren Erinnerungen zu versöhnen und andererseits westsozialisierten Leser:innen die für sie fremde und rätselhafte Mentalität der „Ossis“ zu erklären.
Mutig und stark
Die ostdeutsche Mentalität wird seit ein paar Jahren vor allem mit politischer Frustration und Ablehnung der Eliten, mit Verschwörungsmythen und Rechtsextremismus assoziiert. Dass das nicht alles ist, zeigt die Ethnologin und Kunsthistorikerin Juliane Stückrad. In ihrem Band Die Mutigen, die Unmutigen hat sie ihre Erkundungen in der ostdeutschen Provinz zusammengeführt. In die hat es sie seit den Nullerjahren immer wieder verschlagen – mal nur für ein paar Wochen oder Monate quasi auf Montage, dann wieder für ein paar Jahre mit Kind und Kegel.
2010 promovierte Stückrad an der Uni Jena über die „Kultur des Unmuts“, die ihr im Osten bei Protesten gegen Hartz IV, Geflüchtete oder die Coronamaßnahmen, aber auch bei Familienfesten und im Kolleg:innenkreis immer wieder begegnete. „Der kleene, nacksche Mann, der dasteht, kein Hemd mehr anhat, der hat ja niemanden mehr, der ihn verteidigt. Da muss er sich selber mal ein bisschen Dampf ablassen“, erklärte ihr ein Kollege die ostdeutsche Protestkultur. Dem Dampf gibt Stückrad in ihrem Buch nicht einfach nur Raum. Sie versucht, die Nebel zu lichten und fragt, woher der Frust vieler Ostdeutscher kommt und wofür er steht. Im Sinne Bourdieus will sie dabei „das Leiden der Menschen an der Gesellschaft“ ernst nehmen und warnt eindringlich davor, das große Leid der Welt zum Maßstab der Nöte der kleinen Leute zu machen.
Den Menschen, denen sie begegnete, dient die Erinnerung an die Verhältnisse in der DDR bis heute als Referenz. Etwa wenn sie beklagen, dass zahlreiche öffentliche Räume weggebrochen, geschlossen oder plattgemacht worden sind und für viele nur noch der Rückzug in die eigenen vier Wände geblieben sei. In denen vereinsamten viele, Frust staute sich auf, der in den (a)sozialen Medien einen Kanal fand und kollektive Kraft entwickelte. Lohnenswert sind vor allem die vielen kleinen Geschichten, mit denen Stückrad den Unmut der Ostdeutschen einfängt und nachvollziehbar werden lässt. Sie handeln von gebrochenem Vertrauen und vergeblichen Mühen, von leeren Tagen und tristen Landschaften, von trotzigem Widerstand und lokaler Verbundenheit.
Diesen Unmuts-Perspektiven stellt die Ethnologin Geschichten „der Mutigen“ gegenüber, die sie auch immer wieder traf. Menschen, die in abgehängten Gegenden lokale Traditionen erhalten und Räume der Begegnung schaffen. Heimatstuben, Kirchen und Eisdielen hätten sich zu „Orten des gemeinsamen Redens über die Welt der Dinge und der Menschen“ entwickelt, so Stückrad. Sie erzählt von Pfarrleuten und Bürgermeister:innen, die sich für ihre Leute stark machen, von ehemaligen Angestellten, die abgeschriebene Unternehmen retteten, und Bürgerinitiativen, die verfallene Kirchen sanierten oder Regionalmuseen schufen. „Wir waren einfach Macher“, erklärt ihr ein Unternehmer lakonisch seinen Einsatz. Über diese Macher müsse mehr berichtet werden, fordert Stückrad.
Die Unmutsäußerungen im Osten seien der Versuch, „die Kluft zwischen Erfahrung und Erwartung verbal zu überbrücken“, schreibt Stückrad. Da ist sie, die so oft besprochene Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit im wiedervereinigten Deutschland. So schrieb der Soziologe Steffen Mau in Lütten Klein erhellend über das zerrissene Dasein in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk machte in Die Übernahme die Folgen der Eingliederung der DDR in die BRD transparent – wie auch die Publizistin und Freitag-Autorin Daniela Dahn in ihren Büchern, zuletzt in Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute.
Zynisch und selbstgerecht
Wirklich geholfen haben all diese nuancierten Analysen nicht, Vorurteile und Vorverurteilungen gegenüber „Ossis“ halten sich hartnäckig. Die Titanic hat mit ZonenGaby gewissermaßen ganze Arbeit geleistet. Der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann hält deshalb ein ausgewogenes Vorgehen in der Ost-Debatte für gescheitert. Differenzierung verschleiere nur die wahren Verhältnisse. „Wer den gegenwärtigen ostdeutschen Unmut verstehen will, muss sich klarmachen, wie einseitig die Diskursmacht hierzulande verteilt ist“, schrieb er im Februar 2022 in einem viel diskutierten FAZ-Artikel. Sein Buch Der Osten: eine westdeutsche Erfindung vertieft das nun.
Wie schon im Artikel lässt er auf langer Strecke alle Zurückhaltung fahren und benennt „zorngesättigt und frei“ die Ungleichheit zwischen Ost und West. Das wurde zwar schon unzählige Male getan, dringt (in seiner Differenziertheit) aber offenbar nicht durch. „Zynisch, herablassend, selbstgefällig, ahistorisch und selbstgerecht“ spreche der Westen über den Osten, ohne sich für die Perspektiven der Ostdeutschen oder deren gesellschaftliche Teilhabe wirklich zu interessieren, lautet seine Anklage, die er mit zahlreichen Beispielen untermauert. Es ist ein wilder Ritt durch die Untiefen der westdeutschen Debattenkultur, bei dem das Stürzen über den Vorwurf des Populismus einkalkuliert ist. „Die Wirklichkeit ist das Skandalon, nicht mein Ton“, schreibt Oschmann. So legt er keine wissenschaftliche Studie vor, sondern einen meinungsstarken Essay, der wissend Querverbindungen zieht und empathisch an das verletzte Gemüt vieler Ostdeutscher heranführt. Zu deren Wirklichkeit gehört die neokoloniale Attitüde in Begriffen wie „Buschzulage“, dem als „Entschädigung“ getarnten Bonus, den westdeutsche Beamte bis 1995 erhielten, wenn sie in den Osten gingen. Oder die Erfahrung, dass Westdeutsche hierzulande fast alle Führungspositionen in Wissenschaft, Verwaltung, Rechtsprechung, Medien, Politik und Wirtschaft besetzen. Wer das beklage, werde als „Jammerossi“ disqualifiziert.
Studien beziffern den Anteil Ostdeutscher in Spitzenämtern auf gerade einmal 1,7 Prozent. Als Professor für Literatur an der Uni Leipzig ist der 1967 geborene Oschmann eine der wenigen Ausnahmen. Der Trickle-Down-Effekt der strukturellen Benachteiligung: Es fehlt im Osten an Rollenvorbildern und Nachwuchs, an Identität und an der Akzeptanz von Eliten. Diesen wiederum fehle Sprache und Bewusstsein der Ostdeutschen, weshalb sie die neuen Bundesländer seit 30 Jahren als rück- oder widerständig abstempeln.
Oschmann und Stückrad gehen sehr unterschiedlich dem Unmut im Osten auf den Grund, kommen zum Teil aber zum selben Schluss. Es herrsche eine „Konzentration auf die schwierigen Aspekte ostdeutscher Lebenswelten“, schreibt auch Stückrad, die Mut machenden Perspektiven würden übersehen.
Am 4. November 1990 sagte die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley bei der Erinnerungskundgebung auf dem Alex: „Damals haben wir Demonstrationsfreiheit gefordert, heute können wir demonstrieren, soviel wir wollen, aber werden als Pöbel der Straße bezeichnet. Damals kämpften wir für Pressefreiheit, heute können wir alle Zeitungen lesen, aber unsere Probleme stehen dort wenig drin.“ Es ist an der Zeit, das nicht länger hinzunehmen und die Menschen im Osten als Gegenüber auf Augenhöhe – mal unmutig, mal mutig – wahrzunehmen.
Der Osten: eine westdeutsche Erfindung Dirk Oschmann Ullstein 2023, 224 S., 19,99 €
Die Unmutigen, die Mutigen Juliane Stückrad Kanon Verlag 2022, 288 S., 24 €
Briefe aus der DDR 1989 – 1990 Ingrid Spazier (Hrsg.) Verlag Das kulturelle Gedächtnis 2022, 240 S., 22 €