Identität | „dieser Freitag“: Kein Mainstreamblatt, sondern ein Refugium schöpferischer Gegenkultur

Nach 35 Jahren ist der Freitag wieder dort angelangt, wo er einst antrat: beim Versuch, die Insel zu kultivieren. Die beiden Vorgängerzeitungen, sowohl der Sonntag (Ost) als auch die Volkszeitung (West), hatten nie etwas anderes getan. Auch aus dem Freitag ist kein Mainstreamblatt geworden.

Eigentlich wollte sich der Sonntag 1990 mit der Zeit vereinigen, aber dort hatte man vor allem Interesse an der Abonnentenkartei. Die war so groß nicht – also wurde aus der Sache nichts. Und die Volkszeitung? Deren wechselhafte Geschichte scheint heute interessanter denn je, auch wenn Sonntag-Redakteurin Jutta Voigt vor dem von ihr befürchteten „DKP-Muff“ der Volkszeitung zur Wochenpost flüchtete, die dann 1996 eingestellt wurde.

Mit dem zeitlichen Abstand blickt man anders auf das Gewordene. Auch die mir lange so fremde Volkszeitung hat plötzlich eine bemerkenswerte Geschichte mitsamt unbeantworteter Fragen. Das sollte mehr sein als eine bloße Vorgeschichte des Freitag. Es sind lauter Identitätspartikel, die es sich bewusst zu machen gilt, wenn man eine Vorstellung von dem haben will, was man bereits ist – und was man noch werden will.

Kein orthodoxes Parteiblatt, aber der DKP nahestehend

1953 wurde sie als Deutsche Volkszeitung von Joseph Wirth gegründet, der als Reichskanzler 1922 den Rapallo-Vertrag aushandelte – als Zentrumspolitiker ein ausgleichender Geist, der mit den Siegermächten des Ersten Weltkrieges auskommen wollte. Man warf ihm in seiner eigenen Partei vor, zu nachgiebig zu sein, und er trat zurück. Die katholische Zentrumspartei verriet dann 1933 die Weimarer Republik, indem sie dem Ermächtigungsgesetz zustimmte – auch Wirth hob dem Fraktionszwang folgend die Hand, emigrierte dann aber als Nazigegner in die Schweiz.

Nach dem Krieg kritisierte er die Westbindungspolitik Konrad Adenauers, favorisierte ein neutrales Deutschland mit der Chance auf Wiedervereinigung und führte darum auch Gespräche mit Vertretern der DDR. Weil er damit ein Tabu der Adenauer-Zeit gebrochen hatte, strich man dem früheren Kanzler kurzerhand seine Rente – daraufhin wurde er von der DDR alimentiert. 1956 starb er im Westen ungewürdigt, weil man ihm nachsagte, er sei ein Agent der Sowjetunion. Im Osten erhielt er 1955 den Stalin-Friedenspreis. Dies ist doch etwas in sich so Widersprüchliches, dass es der eigenen Geschichte Gewicht gibt – samt Idealen und Irrtümern.

In den 1980er Jahren war die Volkszeitung ein linkes, der DKP nahes Blatt, das nie mit dem orthodoxen Parteiblatt Unsere Zeit verwechselt werden wollte. Ab Mitte der 1980er unterstützte sie Gorbatschows Perestroika und geriet in Konflikt zur SED-DKP-Parteilinie, auch bot sie feministischen Strömungen ein Forum, was dann ein besonderer Konfliktstoff für den Freitag werden sollte, da die ostsozialisierten Sonntag-Redakteurinnen sich nicht nur wenig für Geschlechterfragen interessierten, sondern auf jeden Anflug vermuteter Ideologie allergisch reagierten.

Man debattierte bei der Volkszeitung immer auch über Sozialismus-Theorie, so konstatierte Anfang 1989 der Historiker Heinz-Georg Hofschen eine tiefe Krise des sozialistischen Systems, die zu einem fatalen Effekt führe: „Der konservativen Wende ist es gelungen, Sozialismus als altbackene, kollektivistische Zwangsordnung darzustellen, der nur noch eine Handvoll Ideologen anhängt, die es zu nichts Besserem gebracht haben, während der konservative Zukunftsentwurf moderne Zeiten mit einem hohen Maß an Individualität und Freiheit, … und glamourösem Konsum zu garantieren scheint.“

Der Osten war kein gleichwertiger Partner, der „Sonntag“ schon

Eigentlich, so sollte man meinen, war die Volkszeitung im November 1990 dann doch der ideale Partner für den Sonntag. Zumal die relativ geringen Auflagenhöhen beide Zeitungen gleichrangig erscheinen ließen (mit der Wochenpost jedenfalls, die es in der DDR auf 1,2 Millionen Exemplare pro Ausgabe brachte, ließ sich nicht konkurrieren). Die von den Beteiligten durchaus fair angegangene Fusion beider Blätter ereignete sich nicht im luftleeren Raum, sondern war objektiv Teil des Beitrittsprozesses der DDR zur BRD, was machtpolitisch auf eine Übernahme der DDR hinauslief.

Der Osten war von Anfang an kein gleichwertiger Partner. Dazu kamen nun Schlagworte wie Unrechtsstaat und Stasi – da stand jede kritische Wortmeldung Ost sofort unter Rechtfertigungszwang. Und waren Journalisten in einer Diktatur nicht per se schuldig geworden, Mittäter des „Regimes“, von dem man nun zu sprechen begann und damit auch nie mehr aufhörte? Wer aus dem Osten kommend noch Karriere (ein in der DDR tief beargwöhntes Wort) machen wollte, ging umgehend in den Westen und sagte niemandem, woher er kam.

Keine guten Voraussetzungen für die innere Einheit eines Landes, auch nicht für eine neue Zeitung. Außer politischen Unterschieden wurden auch grundverschiedene Mentalitäten spürbar. Was ein guter Text ist, daran schieden sich oft die Geister. In der im Freitag gebräuchlichen Praxis des indirekten Sprechens sah man aus der Perspektive der Volkszeitung ein bewusstes Verbergen-Wollen. Wer dagegen vom Sonntag kam, fürchtete, der Freitag könnte ein „verbittertes, krampfiges linkes Kampfblatt!“ werden.

Der Sonntag war 1946 von Johannes R. Becher gegründet worden, der Anhänger einer Ost-West-Nationalkultur war, und das prägte die 1950er Jahre der Zeitung. 1957 waren die beide Chefredakteure Gustav Just und Heinz Zöger im Zusammenhang mit dem Prozess gegen den Leiter des Aufbau-Verlages, Walter Janka, zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt worden, der Sonntag galt daraufhin als „staatsfeindlich“ – ein Schock für die Redaktion. Mit Bernt von Kügelgen kam dann ein baltischer Adliger und vormaliger Wehrmachtsoffizier, der in sowjetischer Gefangenschaft das Nationalkomitee Freies Deutschland mitgegründet hatte, an die Redaktionsspitze. Bei der Verurteilung von Janka applaudierte er demonstrativ, womit klar war, dass es mit der alternativ-sozialistischen Insel namens Sonntag nun ein Ende haben sollte.

Der Chefredakteur war ein seufzender Beschützer seiner Leute

Hatte es aber nicht, denn auch Kügelgen konnte sich dem Charme des feiertäglichen Sonntag nicht entziehen. Er holte zahlreiche selbstbewusste junge Redakteurinnen und Redakteure, die das Blatt zu prägen begannen. Mit Hans Jacobus wurde 1976 ein jüdischer Westemigrant Chefredakteur, ein seufzender Beschützer seiner Mitarbeiter, über die er traurig war, falls sie nicht mehr wie er der SED folgen wollten. Als Jacobus sich als Chefredakteur den Mitarbeitern vorstellte und über die wachsende Demokratie in der DDR dozierte, unterbrach ihn eine Redakteurin forsch: „Demokratie? Uns hat keiner gefragt, ob wir Sie als Chefredakteur wollen.“ So blieb der Sonntag höchst individualistisch mit einem Hauch des Elitären, eine Nische für Freigeister.

Die taz nannte den Sonntag schlicht ein „Kulturwehmutsblatt“, womit die West-Linke im Allgemeinen nichts anfangen konnte. Erfreulicherweise sei der Freitag, so die taz, dann doch eine Zeitung mit „aktueller Fragestellung“ geworden. Wäre sie nicht mehr gewesen als das, gäbe es die Zeitung inzwischen wohl nicht mehr. Hier suchte man sich namhafte Intellektuelle wie Günter Gaus, Christoph Hein und Wolfgang Ullmann als Ost-West-Brückenbauer. Friedrich Schorlemmer und Daniela Dahn sollten Ost-Leser binden – aber es kam anders. Neuer Streit und 2012 Daniela Dahns enttäuschtes Resümee: „Ich hielt es für verfrüht, dass der Freitag den Brückenbau zwischen Ost und West aufgegeben hat.“

Als das Blatt dann 2009 im Impressum auf den Hinweis seiner Vorgeschichte mit Sonntag und Volkszeitung verzichtete, befürchteten manche die völlige Profillosigkeit, die aus Geschichtslosigkeit resultiert, während der Untertitel „Das Meinungsmedium“ veritable Feinde hatte. Wer gründet ein Nischenblatt ernsthaft auf Meinungen? Das wurde glücklicherweise korrigiert, der aufreizend oberflächliche Untertitel verschwand wieder. Dieser Prozess der Selbstkorrektur hat inzwischen zu einer fragilen Identität des Freitag geführt. Man weiß hier, dass das Zusammenspiel von Aktion und Kontemplation im Blatt nichts ist, was man fürchten sollte – Kultur, auch politische, braucht beides. Das könnte sie sein, die rettende Insel, auf der Robinson und Freitag gemeinsam überleben, ein Refugium schöpferischer Gegenkultur. Ohne einen Funken Utopie aber geht es nicht.

Gunnar Decker ist Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm Rilke in der Schweiz

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Der Freitag wird 35 Jahre alt!

Am 9. November 1990 erschien die erste Ausgabe des Freitag – einer Fusion des ostdeutschen Sonntag und der westdeutschen Volkszeitung. Mit dem Untertitel Die Ost-West-Wochenzeitung begleitete er die deutsche Einheit von Anfang an aus einer kritischen Perspektive.

Wir wollen bloß die Welt verändern: Mit unserem Ringen um die Utopien der Gegenwart, mit unserem lauten Streiten und Nach-Denken, mit den klügsten Stimmen und der Lust am guten Argument finden wir heraus, was es heißt, links zu sein – 1990, die vergangenen 35 Jahre, heute und in Zukunft.

Dazu gratulieren uns Slavoj Žižek und Christoph Hein, Tahsim Durgun und Margot Käßmann, Svenja Flaßpöhler, Sahra Wagenknecht, El Hotzo und viele weitere Interviewpartnerinnen, Autoren und Wegbegleiterinnen des Freitag.

Lesen Sie dies und viel mehr in der Jubiläumsausgabe der Freitag 45/2025 und feiern Sie mit uns!