Humanitäre Lage in Gaza: Der Winter bereitet mehr Sorgen wie ein toter Hamas-Chef

Mehr als ein Jahr hat die israelische Jagd auf Jahia Sinwar gedauert. Auf den Hamas-Anführer, der auch der „Schlächter von Chan Junis“ genannt wurde. Auf den Mann, der maßgeblich für die Massaker vom 7. Oktober mit mehr als 1.200 Toten verantwortlich war. 350 israelische Soldaten sind seit Israels Einmarsch in Gaza gestorben. 

Für die israelische Armee ist es eine Erfolgsmeldung. Die Tötung Sinwars hatte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu einem der zentralen Kriegsziele erklärt. Der Erfolg war aus Israels Perspektive wichtig, denn der Krieg im Gazastreifen steht immer stärker in der Kritik. 

Mehr als 42.000 Menschen sind nach Angaben des hamasgeführten Gesundheitsministeriums getötet und über 100.000 weitere verwundet worden. Die Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen; sie unterscheiden nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten, nicht zwischen Männern, Frauen und Kindern. Internationale Organisationen und Regierungen halten sie dennoch für plausibel.

Im nördlichen Gazastreifen steht kaum noch ein intaktes Gebäude, wie auf Satellitenbildern zu erkennen ist. Israel hatte die Menschen dort erst vor wenigen Tagen erneut dazu aufgefordert, die Region zu verlassen. Dort befinden sich das Flüchtlingslager Dschabalija und die Orte Beit Lahia und Beit Hanun, 400.000 Menschen harren hier noch aus. Weil die Kämpfe drumherum wieder heftiger werden, kommen hier seit drei Wochen keine Hilfskonvois mehr rein. Viele der Menschen dort wollen ihr Zuhause trotzdem nicht verlassen. Ein Bewohner, der namentlich nicht genannt werden möchte, sagte im Telefongespräch mit ZEIT ONLINE: „Lieber sterbe ich in Würde zu Hause als unter elenden Bedingungen auf der Flucht oder in einem Zelt.“ Nach Angaben der UN sind 70 Prozent der Wohnhäuser in Gaza zerstört.

Doch auch in der Mitte und im Süden des Gazastreifens ist es nicht sicher. Die von Israel als „humanitäre Zone“ deklarierten Gebiete sind weiterhin Ziel von Luftangriffen und Militäreinsätzen am Boden. Erst in dieser Woche gingen Bilder des 19-jährigen Shaban al-Dalou um die Welt, der zusammen mit seiner Mutter in einem Feuer starb. Das Kunststoffzelt, in dem sie sich aufhielten, ging nach einem israelischen Luftschlag in Flammen auf.

Die Zelte werden im Winter nicht standhalten

Mehr als 1,7 Millionen Menschen halten sich in der Zone zwischen Deir al-Balah und Al-Mawasi auf, die meisten von ihnen in notdürftigen Zelten. Internationale Organisationen warnen, dass diese dem Regen und Wind des nahenden Winters nicht standhalten werden. Es fehlt an Nahrung: Bereits jetzt hungern 96 Prozent der Bevölkerung in kritischem Ausmaß, schätzt das Welternährungsprogramm der UN. Pro Person stehen im Gazastreifen am Tag drei bis vier Liter Wasser zur Verfügung – zum Trinken, Waschen, Kochen. 15 Liter gelten als das notwendige Minimum für einen Menschen, ein durchschnittlicher Europäer verbraucht etwa 130 Liter am Tag.

Zahlreiche Familien wurden bereits mehrfach vertrieben. „Mit jeder Vertreibung verlieren sie noch mehr. Derzeit gibt es kaum Hoffnung, dass sich ihre Situation bald verbessern könnte“, sagt Georgios Petropoulos, der seit zehn Monaten das UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten in Gaza leitet. Hilfsgüter mit warmer Kleidung und Zeltplanen für den Winter hätte Israel bisher nicht durchgelassen, sagt Petropoulos. Die Menschen waschen ihre Kleidung notdürftig in Meerwasser, das Salz zersetzt den Stoff langsam. Viele laufen mittlerweile barfuß.  

Schon vor der Invasion war Gaza auf Hilfslieferungen angewiesen. Doch je länger der Krieg dauert, umso mehr sind die Menschen auf Hilfe von außen angewiesen. Ein Großteil der Fischereiflotte ist offenbar zerstört worden. Mehr als zwei Drittel der Flächen für Ackerbau sind beschädigt, zum Teil von Sprengstoff verseucht und auf Jahre nicht nutzbar. Es gibt keine Universität mehr, 87 Prozent der Schulen wurden beschädigt. Allein seit September wurden 20 Schulen bombardiert. 

„Die ineffizienteste humanitäre Mission, die ich je gesehen habe“

Gleichzeitig kommen immer weniger Lastwagen mit Lebensmitteln ins Land. Vor der Bodenoffensive Israels waren es pro Tag etwa 450, jetzt sind es weniger als 100. In der Folge explodieren die Preise auf dem Schwarzmarkt: Ein Kilo Mehl kostete vorher umgerechnet 35 Cent. Jetzt sind es im Süden des Gazastreifens sechs Dollar und 40 Dollar im Norden.

Und das, was reinkommt, lässt sich immer schwerer verteilen. Die israelische Armee beteuert immer wieder, dass sie große Anstrengungen unternehme, „um die sichere Lieferung humanitärer Hilfe zu ermöglichen“. Internationale Organisationen vor Ort hingegen zeichnen ein anderes Bild. Die israelischen Truppen lassen Lieferungen nur auf zwei Routen zu, über die Fence Road außerhalb Gazas entlang des Grenzzauns und die Hauptroute entlang der Salah-al-Din-Straße. Letztere ist auf vielen Strecken nur noch eine Sandpiste. Dort kommt es immer wieder zu Plünderungen der Konvois

Was den Plünderern nicht in die Hände falle, werde von der israelischen Armee häufig an Checkpoints aufgehalten. Rein kommt sowieso nur, was Israel zulässt. Muhannad Hadi, UN-Koordinator für humanitäre Hilfe, berichtet, von 54 Anfragen von UN-Organisationen in den vergangenen zwei Wochen sei nur eine angenommen worden. „Gaza ist die ineffizienteste humanitäre Mission, die ich je gesehen habe“, sagt Jonathan Whittall, Leiter der Mission des UN-Nothilfebüros OCHA in Jerusalem. „Anstatt zu überlegen, wie die humanitären Bedürfnisse aller am besten befriedigt werden können, sind wir gezwungen, Ausnahmen von einer Grundlage von Nicht auszuhandeln.“

Der Druck auf Israel wächst

Angesichts der anhaltenden humanitären Katastrophe hat die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) am Donnerstag eine Sondersitzung mit internationalen Hilfsorganisationen zur Koordinierung der humanitären Hilfe in Ramallah einberufen. „Es ist ein genozidaler Krieg, der gegen alle Menschen in Gaza geführt wird“, sagte der Chef der PA, Mohammad Mustafa, gegenüber Teilnehmern. Er rief dazu auf, die Koordination zwischen palästinensischen und internationalen Organisationen zu intensivieren. Ein von den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der Weltbank unterstütztes nationales Team zum Wiederaufbau von Gaza sei erst vor wenigen Wochen eingerichtet worden.

Mittlerweile erhöhen auch andere Staaten den Druck auf Israel, die humanitäre Lage in Gaza zu verbessern. Am Mittwoch wurden auf Druck der Vereinigten Staaten 50 Lastwagen in den Norden gelassen, allerdings nur bis Gaza-Stadt. Israel hatte zuvor die Zugänge in den Norden, Eres und Checkpoint 96 geschlossen. So blieb zeitweise nur der Hauptübergang Kerem Schalom im Süden offen. Am Sonntagabend drohten der US-Außenminister Antony Blinken und Verteidigungsminister Lloyd James Austin, weniger Waffen zu liefern, sollte Israel nicht binnen 30 Tagen konkreten Maßnahmen nachkommen. Ihre Forderung: die Öffnung aller vier Grenzübergänge sowie die Gewährung von 350 Lastwagenladungen pro Tag und Feuerpausen für humanitäre Einsätze. 

Inmitten all dieser Faktoren dürfte der nahende Winter mehr Sorgen bereiten, als die Tötung von Hamas-Chef Sinwar Hoffnungen weckt. Auch unter Bewohnern des Gazastreifens sind kaum optimistische Töne zu hören, dass der militärische Teilerfolg Israels zu einem baldigen Waffenstillstand führen dürfte.

Ohnehin warnen Beobachter im Nahen Osten, dass eine Vernichtung der Hamas-Führung die Terrororganisation nicht nachhaltig schwächen werde. Ibrahim Dalalsha, Direktor des in Ramallah ansässigen Thinktanks Horizon Center, erinnert daran, dass sich die Terrororganisation auch nach den noch viel stärkeren Verlusten während der Zweiten Intifada wieder erholt hat. „Wer nachhaltige Perspektiven will, muss die Realität vor Ort im Auge behalten“, sagt er. Dazu gehört vor allem die Lage der Zivilbevölkerung.