Hind Kabawat: „Ich bin eine Tochter der Revolution“
Hind Kabawat, syrische Ministerin für Soziales und Arbeit, lebt in der Altstadt von Damaskus
in einem alten Haus traditioneller syrischer Bauweise. Die 51-Jährige bat darum, das
Interview bei sich zu führen. Es ist früher Abend, der Strom ist mal wieder ausgefallen
in der Hauptstadt. Nur eine Laterne spendet Licht im Innenhof. Im Laufe des
Gesprächs wird Kabawat immer wieder ansprechen, wie sie in ihren Jahren im Exil
in Kanada davon träumte, zurückzukehren.
ZEIT ONLINE: Frau
Kabawat, als die neue Regierung unter Ahmed al-Scharaa vorgestellt wurde und Sie
Ihren Amtseid ablegten, konnte man in der Übertragung sehen, dass einige der
Männer Sie nicht ansahen – weil Sie eine Frau sind. Wie gehen Sie damit um?
Hind
Kabawat: Ich glaube, der Grund dafür liegt in der
Technik: Links und rechts von mir waren große Bildschirme aufgebaut. Es
passiert mir selbst, dass ich dann auf die Bildschirme gucke, anstatt direkt
auf die Person. Aber sicher werden auch ein paar darunter gewesen sein, die an
mir vorbeisahen, das kann ich nicht ausschließen. Aus Respekt schauen manche
Muslime Frauen nicht direkt an, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen.
ZEIT ONLINE: Sie sind
die einzige Frau in der Übergangsregierung – und Sie sind Christin. Werden Sie
von anderen Christen dafür kritisiert, dass Sie mit Islamisten zusammenarbeiten?
Kabawat: Es gibt
ein Sprichwort: „Wenn dich alle kritisieren, bist du auf dem richtigen
Weg.“ Manche Säkulare kritisieren meine Teilnahme in einer islamischen
Regierung, die islamischen Hardliner kritisieren mich, weil ich Christin bin und
eine Frau. In unserer Gesellschaft wollen die wenigsten, dass Frauen eine
führende Rolle spielen. Deshalb schikanieren sie uns. Aber das ist mir egal.
Ich habe aus meinem langen Widerstand gegen Baschar al-Assad gelernt, wie ich
mich davor schützen kann. Ich kümmere mich nicht um all das Gerede.
ZEIT ONLINE: Warum gibt
es außer Ihnen keine weitere Ministerin?
Kabawat: Natürlich
wünschte ich, es gäbe mehr. Ich habe die Lebensläufe mehrerer qualifizierter
Frauen eingereicht und gesagt, dass Frauen ausgewählt werden müssen für
wichtige Posten in der Regierung. Wir Frauen müssen dafür kämpfen.
ZEIT ONLINE: Aber Sie
sind ja die einzige.
Kabawat: Dann
muss eben ich kämpfen. Zum Beispiel mussten wir vor zwei Tagen eine interne Arbeitsgruppe
aus fünf Personen bilden, und die Kandidaten waren alle Männer. Ich habe
Einspruch erhoben und erreicht, dass nun zwei Frauen dabei sind.
ZEIT ONLINE: Viele
Christen in Syrien haben Angst vor der neuen Regierung, weil sie aus ehemaligen Al-Kaida-Kämpfern besteht. Warum haben Sie sich entschieden, ihnen zu
vertrauen?
Kabawat: Wenn man zusammenarbeiten will, muss man Vertrauen aufbauen und sich
auf das Wesentliche konzentrieren: die Aufgabe. Ich sehe mich nicht als
Minderheit, ich bin eine syrische Staatsbürgerin mit allen Rechten. Natürlich
verstehe ich, dass einige Menschen Angst haben, aber ich glaube, dass die
Regierung alles tut, um den Menschen ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Ich
sage zu den Leuten auf der Straße: „Schauen Sie sich um. Haben Sie das
Gefühl, dass wir hier in Afghanistan sind?“ Sie sagen: „Nein“. Ich
frage sie auch: „Konnten Sie die Feiertage begehen, ohne dass Sie
belästigt wurden?“ Sie sagen: „Ja, das konnten wir.“ Also lasst uns
einander vertrauen und versuchen, ein Land aufzubauen. Es gibt keine größere
Gefahr als Baschar al-Assad. Man kann sich immer fragen, ob das Glas halb voll
oder halb leer ist. Für mich ist Syrien heute ein volles Glas, und es ist mit wertvollem
Rosenwasser gefüllt.
ZEIT ONLINE: Fundamentalisten
kann man nicht davon überzeugen, Frauen als gleichwertig anzusehen, weil es
gegen ihren Glauben ist. Haben Sie nicht manchmal das Gefühl, dass all Ihre
Arbeit vergeblich sein könnte?
Kabawat: Wenn jemand für sein Land arbeitet, kann das nie vergeblich sein. Früher habe ich mich in der liberalen
Opposition gegen Assad engagiert, jetzt arbeite ich mit einer islamistischen
Regierung. Ich kann sagen, dass mir Islamisten mit viel mehr Respekt begegnet sind als manche Liberale, mit denen ich nur schwer reden konnte und die mich
ausgeschlossen haben. Sie haben Frauen nicht in die erste Reihe gelassen, und
das passiert mir jetzt nicht. Deshalb bin ich hier, und wenn ich nicht tun
kann, woran ich glaube, werde ich das nicht akzeptieren. Einige
meiner Ministerkollegen kamen während der Osterfeiertage persönlich zu mir oder
haben mir Ostergrüße geschickt. Wenn man diese Männer anschaut, sieht man zuerst
ihre Bärte und denkt, sie seien Extremisten. Es ist wichtig, keine Stereotypen
zu haben. Zwischen uns herrscht eine Arbeits- und Kollegialbeziehung, wir
wurden wirklich wie Schwester und Brüder!
ZEIT ONLINE: Syrien
steht vor riesigen Herausforderungen, 90 Prozent leben unter der Armutsgrenze.
Weite Teile sind zerstört. Was sind Ihre Hauptziele in diesen ersten Monaten?