Hilfe | Erdbebenopfer: Warten auf die Visa

Vor knapp zwei Wochen verlautbarte das Auswärtige Amt: „Vier Tage nach der Ankündigung des vereinfachten Verfahrens haben unsere Kolleg*innen in der Türkei schon die ersten Visa an vom Erdbeben Betroffene ausgestellt. Vielen Dank an alle für den riesigen Einsatz!“ Das Erdbeben in der Türkei und Nordsyrien vom 6. Februar, von der Weltgesundheitsorganisation WHO als „schlimmste Naturkatastrophe“ in Europa seit einem Jahrhundert eingestuft, hat offiziell mehr als 45.000 Tote gefordert. Unzählige Menschen leben auf den Straßen und haben Angst. Denn noch immer kommt die Erde nicht zur Ruhe, weil unzählige Nachbeben folgen.
Viele der hiesigen Türkeistämmigen wollen unter diesen Umständen ihre nahen Verwandten aus dem zerstörten Gebiet mit mangelnder Grundversorgung und Hygiene zu sich holen. Doch die versprochene Erleichterung im Visa-Verfahren scheint keine wirkliche Erleichterung zu bringen, im Gegenteil. Noch gilt die Erleichterung nur für türkische Staatsbürger*innen; geflüchtete Syrer*innen in dem Gebiet und aus Nordsyrien können nur im Rahmen eines Familiennachzugs einreisen oder ein reguläres Visum beantragen. Erforderlich sind für türkische Staatsbürger*innen derzeit zehn Dokumente, darunter ein gültiger Reisepass und ein biometrisches Passfoto der Antragstellenden. Auch müssen diese schriftlich belegen, dass sie zur Verwandtschaft gehören – also nahe Angehörige wie Eltern, Kinder, Großeltern, Enkelkinder und Geschwister sind – und im Erdbebengebiet wohnen. Dass viele nur ihr Leben aus den bebenden Häusern retten konnten, scheint unerheblich.
Dokumente unter Trümmern
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) verteidigte dieses Vorgehen in einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk mit den Worten: „Wir sind darauf angewiesen, trotz schneller Hilfe darauf zu achten, wer zu uns kommt.“ Bei einem Besuch Mitte Februar im betroffenen Gebiet ließen sich Nancy Faeser und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) eine wieder eröffnete Visa-Vergabestelle und einen Visa-Bus zeigen. Der Bus soll in besonders betroffenen Gebieten zum Einsatz kommen, ohne dass die Menschen für die Antragstellung etwa in die Hauptstadt nach Ankara fahren müssen. Aber noch tun sie genau das. So wie der erwachsene Sohn einer 42-jährigen Frau, die in einer kleinen Ortschaft in Nordrhein-Westfalen wohnt und ihren Namen nicht öffentlich preisgeben will. Er hat – wohl als einer der wenigen – noch seinen Pass. Im Gegensatz zu vielen Menschen, die ihr ganzes Hab und Gut, also auch ihre Dokumente, unter den Trümmern begraben wissen. „Als in der Nacht in Hatay die Erde bebte, hat er geistesgegenwärtig noch seinen Pass eingesteckt“, erzählt die Mutter von vier Kindern.
Ihr Sohn lebte und arbeitete im schwer betroffenen Hatay. Jetzt versucht sie seit zwei Wochen unermüdlich, alle erforderlichen Dokumente bei der für sie zuständigen Ausländerbehörde einzureichen. „Mein Sohn fragt mich jeden Tag, ob ich ihn vergessen habe“, erzählt sie. Er schlafe nachts in einer Turnhalle und habe nur noch das, was er am Leib trug in der Erdbebennacht. „Von wegen erleichterte Visa!“, redet sie sich in Rage und erzählt von den Hürden, die ihr allein schon in ihrer Heimatstadt begegneten. Denn bevor das Visum in der Türkei beantragt und erteilt werden kann, haben auch die einladenden Angehörigen alle Hände voll zu tun. Seit genau zwei Wochen reiche sie Unterlagen ein: Arbeitsverträge, Aufenthaltstitel, Verdienstbescheinigungen der letzten sechs Monate beider Ehepartner und eine sogenannte Verpflichtungserklärung, mit der die Angehörigen dafür bürgen, alle Kosten der Person zu tragen, die sie einladen.
Neben den Lebenshaltungskosten bedeutet das auch die Kosten für Krankenversicherung und Pflege. „Als ich alle Papiere zusammenhatte, wurde mir gesagt, dass uns 28 Euro fehlen würden für die Einkommensgrenze, um meinen Sohn einzuladen. 28 Euro! Den Minijob meines Mannes hatten wir nicht angegeben und so konnten wir diese Hürde überbrücken. Aber dann sollte ich noch ein Sperrkonto mit 6.000 Euro als Sicherheit angeben“, erzählt die Mutter und lacht verzweifelt. Auch das hätte sie nun erledigt. Jetzt muss die Verpflichtungserklärung – auf dem Postweg! – noch in die Türkei, ihr Sohn werde das Visum über den externen türkischen Dienstleister iData beantragen, mit dem die deutschen Vertretungen zusammenarbeiten.
Berlin will es anders machen
Dieser Dienstleister nimmt gegen eine Visumgebühr von rund 80 Euro sowie eine Servicegebühr von rund 33 Euro die erforderlichen Unterlagen an und übergibt sie den deutschen Auslandsvertretungen, die dann über die Visa entscheiden. Laut einem Vertreter des Auswärtigen Amtes sollen die Drei-Monats-Visa innerhalb von fünf Tagen erteilt werden, wenn alle Unterlagen vollständig seien. „Mein Vater wartet schon seit über einer Woche“, sagt der 45-jährige Mann aus Hamburg, der ebenfalls nicht seinen Namen nennen möchte. Die Eltern seien Rentner, seine Mutter hätten das Visum bereits, nur das seines Vaters lasse noch auf sich warten. „Es gibt keine Ansprechpartner, weder bei iData noch in der deutschen Vertretung in Ankara, die man fragen könnte, ob noch Unterlagen fehlen“, erbost sich der Mann.
Seine Mutter wolle nicht allein nach Hamburg fliegen, da der Vater herzkrank sei und sie gerade in einer Zweizimmerwohnung mit zehn anderen Erdbebenopfern leben würden. „Ich möchte doch nur, dass sie hier ein wenig zur Ruhe kommen“, sagt der Mann und erzählt von den ständigen Beileidsbesuchen, die seine Mutter noch trauriger machten. „Sie hat eine Woche lang bei den Trümmern des Hauses ihrer Schwester gewartet, ohne dass Rettung kam.“ Die gesamte Familie sei ausgelöscht worden, seine Mutter schwer traumatisiert. „Eine super Geste“, nennt er das erleichterte Visum für die Erdbebenopfer. Auch weil die deutsche Seite kein Geld für die Visa nehme. Er verstehe aber nicht, warum es nicht schneller gehe und die türkische Servicestelle noch Gebühren verlange: „Die nehmen wirklich noch Geld von den Erdbebenopfern.“ Verzweifelt fühle er sich, das Warten sei eine Qual.
Bei einer gut besuchten Veranstaltung des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg dieser Tage verspricht der Direktor des Landesamtes für Einwanderung Berlin (LEA), Engelhard Mazanke, eine Beschleunigung bei den Verfahren. Leider sei immer noch nicht klar, dass viele Menschen vergeblich vorsprechen, denn die einladenden Angehörigen müssen über ein ausreichendes Einkommen verfügen und entweder deutsche Staatsbürger*innen sein oder einen dauerhaften Aufenthaltstitel nachweisen. Erst wenn diese Bedingungen erfüllt seien, kämen die erleichterten Visa für die Angehörigen infrage.
Aber er warnt auch vor falschen Erwartungen, denn die 90-Tage-Visa seien nicht verlängerbar. Bisher seien etwa 25 solcher Anträge beim LEA eingegangen, für Berliner Verhältnisse eigentlich zu wenig, findet Mazanke. „13 Nachwuchskräfte werden uns ab morgen, Mittwoch, verstärken“, kündigt er noch an und hofft, somit um die 500 Verpflichtungserklärungen pro Woche abarbeiten zu können. Immerhin.