Helga Schubert über die Pflege ihres Mannes: „Das ist doch kein Leben mehr für ihn“, hat ihr ein Arzt gesagt – WELT

Fahrt über leere Mecklenburger Landstraßen, in der Nähe des Schweriner Sees: Aus der Perspektive der Städterin reiht sich ein halb verwunschener, halb vergessener Ort an den nächsten; in jedem scheinen alte Männer mit tief in die Stirn gezogenen Kapitänsmützen durch den Wind zu gehen. Es ist ein erster, noch vorsichtiger nördlicher Frühlingstag, der Weg führt über ein weites Feld in einen blaugrau bewölkten Himmel hinein, dann steht neben einer Koppel plötzlich das unauffällige Haus da.

Helga Schubert öffnet die Tür mit der behänden Geste einer Frau, die im Leben steht, auch wenn sie den Ausdruck sicher zu floskelhaft fände, anmaßend, sie lebt eben einfach, was denn sonst. Für eine Sekunde ahnt, spürt man: Entschlossenheit, Abgehärtetheit, Fürsorglichkeit, und schon winkt sie einen herein und verschwindet selbst in der Küche, Kaffee holen und Mohnkuchen.

Im Wintergarten, der hinten auf die Felder blickt, sitzt Schuberts 96-jähriger Mann Johannes Helm, von dem ihr neues Buch „Der heutige Tag“ handelt: von seiner Pflege, der Liebe ihm gegenüber, einem Alltag zu zweit, wenn der eine sich langsam verabschiedet aus dem Leben und der andere darüber schreibt. „Der heutige Tag“ ist von der Kritik positiv besprochen worden, ob als Beitrag zur Pflegedebatte in Deutschland oder literarisches Dokument einer Liebe, die fast sechzig Jahre währt.

Würde bewahren

„Das ist doch kein Leben mehr für ihn“, habe ihr ein Arzt gesagt, sie könne ihrem schwer kranken Mann doch ruhig „ein paar Tropfen Morphium mehr“ geben, schreibt Helga Schubert, später wurde für Helm ein Hospizplatz gefunden. Aber dort wollte ihr Mann nicht bleiben. Schubert nahm ihn wieder mit in das Haus in Mecklenburg, in die abgeschiedene Gegend, die ihn an die schlesische Kindheit erinnerte und in der er jahrelang seine neoimpressionistischen Bilder gemalt hatte. Wenn Helga Schubert von der Entscheidung erzählt, die häusliche Pflege ihres demenzkranken Mannes im Wesentlichen selbst zu übernehmen, klingt es leicht: Natürlich, das war einfach so, nicht wie ein komplexer Beschluss, eher wie ein Reflex.

„Ich liebe ihn sehr“, heißt es an einer Stelle, was schlicht klingt, aber ein Versprechen birgt, von dem das Buch auch erzählt: die eigenen Wünsche des Mannes zu respektieren, seine Würde zu bewahren, auch seine Männlichkeit. „Er hatte von Anfang an etwas Geheimnisvolles für mich“, schreibt Schubert zu Beginn des Buches, und am Ende, allen Beschreibungen von Demenz, Blasenkathetern und Medikamentengaben zum Trotz, bleibt dieses Geheimnis gewahrt, vielleicht sogar neu beschützt durch die Worte der Frau, die das Buch geschrieben hat.

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„Der heutige Tag“ verhandelt neben der Fürsorge, der Gemeinsamkeit zwischen „zwei alten Liebesleuten“ und dem langsamen „Ausatmen“ eines Lebens auch das Anfangen, Helga Schuberts Lebensthema. „Ich hab so Antennen“, sagt sie, noch halb aus der Küche, Zucker holend, und es ist nicht ganz klar, was sie meint: ob sie jede Regung ihres Mannes nach all den Jahren so gut kennt, dass sie glaubt, die nächste vorausahnen zu können, oder ob sie auch von ihrer Art des vorausschauenden Blickens und Schreibens spricht.

Die Schriftstellerin Helga Schubert ist lange unbemerkt geblieben und hat immer wieder neu angesetzt. Ihr Debüt „Lauter Leben“, 1975 in der DDR erschienen, waren Erzählungen, lakonische Alltagsgeschichten über Frauen und ihre Art, das ambivalente Leben anzugehen. 1980 wurde Schubert auf Vorschlag von Günter Kunert zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb ins österreichische Klagenfurt eingeladen, bekam aber keine Ausreisegenehmigung, weil der damalige Juryvorsitzende Marcel Reich-Ranicki den DDR-Oberen als Antikommunist galt. Vierzig Jahre später, 2020, gewann sie den Wettbewerb als Achtzigjährige und veröffentlichte kurz darauf „Vom Aufstehen“. Wichtig ist ihr immer gewesen, nicht dass man etwas erzählt, sondern wie.

Helga Schubert sortiert in ihrem Arbeitszimmer ihren Nachlass für das Deutsche Literaturarchiv Marbach
Helga Schubert sortiert in ihrem Arbeitszimmer ihren Nachlass für das Deutsche Literaturarchiv Marbach
Quelle: Marlene Gawrisch

Sie müsse jetzt aber, sagt Helga Schubert, als sie den Wintergarten wieder betritt, erst die Geschichte erzählen, die ihren Mann immer so zum Lachen bringe. Im Archiv der SED, habe sie gelesen, sei ein Bericht gefunden worden: Johannes R. Becher, Kulturminister der DDR und Gegner der Freikörperkultur, sei an einem Strand voller Nackter vorbeigegangen. Eine Frau fiel ihm auf, die als Sonnenschutz das „Neue Deutschland“ über sich gelegt hatte. „Was machen Sie denn da, Sie alte Sau?“, habe Becher gerufen.

Wenig später hatte er einen Preis zu vergeben an die Schriftstellerin Anna Seghers: großes Lob an die Genossin. Seghers habe entgegnet: „Für dich immer noch alte Sau!“ Helga Schubert und ihr Mann lachen, er etwas länger als sie. „Wenn ich die Geschichte richtig erzählen würde, würde ich das Wesentliche weglassen – irgendjemand geht vorbei, und dann ist das Johannes R. Becher“, erklärt Schubert. Johannes Helm lacht noch einmal auf, dann schaut er über die Felder.

Schwieriges Kapitel Christa Wolf

Als Schubert in der Küche war, hat er von seinen Bildern erzählt, er fing damit an mit Mitte vierzig, neben seinem Beruf als Professor für klinische Psychiatrie an der Humboldt-Universität in Berlin, wo er Schubert kennenlernte. Wenn ein erwachsener Mann jenseits der Vierzig mit dem Malen anfange und dann auch noch schreibe, dann entstehe doch die Hoffnung: „Eigentlich könnte jeder von uns täglich neu anfangen“, hat Helga Schubert in Helms Buch „Malgründe“ notiert. Gibt es so etwas wie eine Erlösung durch das unaufhörliche Anfangen?

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Schubert ist noch mal aufgesprungen, in die Küche, Helm schaut weiter nach draußen. Dann zeigt er auf eine kleine Hütte am Ende des Gartens: Seine Sternwarte sei das, nachts habe er da oft gesessen mit den zwei Fernrohren. Einmal seien die Schriftstellerin Christa Wolf und ihr Mann zu Besuch gekommen. „Und ich sagte: ‚Willste meine Jupitermonde sehen?‘ Und sie: ‚Was, diese Pünktchen sind Jupitermonde?‘“ Helm lacht auf.

Christa Wolf ist ein schwieriges Kapitel in Helga Schuberts Leben. Sie hat Schubert und Helm in den Siebzigerjahren das Haus hier vermittelt, die Schriftstellerin Sarah Kirsch bot ihr einen Kredit an. Erst habe Wolf sie gefördert, erzählt Schubert wieder am Tisch, aber sie habe gespürt, dass etwas „nicht stimmt“. Wolf habe ihr Malven ins Haar gesteckt und ihr gesagt, wie begabt sie sei, sie dann aber in „Sommerstück“ schrecklich dargestellt, „die Frau von Günter de Bruyn sagte, sie würde sich erschießen, wenn sie so beschrieben würde“.

Bei Christa Wolfs „Kindheitsmuster“, 1976 erschienen, habe Wolf sie vorher die Fahnen lesen lassen, aber nicht mit der Kritik umgehen können. „Warum musste sie sich so als Sensible darstellen? Sie hat wirklich gar nicht an der Welt gelitten – und sie hat mir übel genommen, dass ich ihr das gesagt habe“, sagt Schubert. Vor allem habe Wolf Helm vor ihr warnen wollen, weil sie ja immer die DDR verlassen wollte. „Ich bin wie so ein Kind, das immer sagt: ‚Der Kaiser hat ja gar nichts an‘ – das geht mir ja oft so. Ich habe so eine Überwachheit.“ Mit ihrer politischen Einschätzung habe sie ja recht behalten, sagt Schubert. Christa Wolf ist Anfang der Neunzigerjahre als „IM Margarete“ enttarnt worden.

Helga Schubert pflegt ihren Mann Johannes Helm selbst
Helga Schubert pflegt ihren Mann Johannes Helm selbst
Quelle: Marlene Gawrisch

Und wann ist die DDR für sie selbst wirklich zu Ende gewesen? Als sie für einen Dokumentarfilm dem Mann gegenübergesessen habe, der sie hatte bespitzeln lassen, erzählt Schubert. In Berlin sei der ehemalige Stasi-Mann auf sie zugelaufen, in dem Café, in dem der Film gedreht wurde, und habe gleich als Erstes gesagt: „Ich fühle Reue und Scham.“ Sie habe gerufen: „Ich bin schon verkabelt!“ Daraufhin er: „Na, ich auch!“ Schubert lacht: Da sei für sie die DDR vorbei gewesen, „in so eine Filmsituation übergegangen“.

Aber sie solle nicht so viel über die Vergangenheit reden, Christa Wolf oder Verrat, sagt Schubert und schaut nach draußen. Helm ist inzwischen eingenickt, ruhig sitzt er da, eine stille Präsenz. Da drüben, sagt Schubert und zeigt in den Garten, da im Holzhäuschen sei sie den Text von „Der heutige Tag“ mit ihrer Lektorin noch mal genau durchgegangen. „Ich bin eine Formbeachterin.“ Wenn der letzte Satz feststehe, schreibe sie darauf hin. Oft lese sie Bücher von hinten, um die Struktur zu verstehen. Sie schreibe abends, in den Stunden, in denen ihr Mann sie nicht unmittelbar braucht.

Helga Schubert im Gespräch mit WELT-Journalistin Mara Delius
Helga Schubert im Gespräch mit WELT-Journalistin Mara Delius
Quelle: Marlene Gawrisch

Helm ist wieder aufgewacht, ob er etwas möchte, fragt Schubert in einer hellen, leichten Stimme, mädchenhaft fast. Die Frage, wie es kommt, dass sie ihr Leben als pflegende Frau nicht als eine Verzichtsgeschichte wahrnimmt, erübrigt sich seltsam plötzlich, wenn man Schubert und Helm miteinander sieht und wenn man von „Derden“, kurz für „Der, den ich liebe“, gelesen hat. Für sie bedeute ihr „Stundenbuch der Liebe“, wie es im Untertitel heißt, auch Hoffnung, nicht Abschied. „Vielleicht verhilft es dem Leser auch zu einer Nachsichtigkeit in der Einstellung zum eigenen Leben, wer weiß“, sagt Helga Schubert.

Sie selbst habe eigentlich nur noch zwei Projekte: ihrem Mann weiter ein zufriedenstellendes Leben zu ermöglichen und seine Bilder gut zu verwalten. Schubert führt in die Scheune im Garten, in der Hunderte von ihnen lagern, Helm kommt hinterher. Es sind seltsam sphärische, manchmal traumartige Szenen und Landschaften. Auf einem Bild brennt ein Haus, wie das, was an dieser Stelle vorher gestanden hat und 1983 abgebrannt ist. Auf dem Bild brennt nur ein kleiner Teil, fast könnte man es übersehen. „Ich verschweige ja keine Schwierigkeiten“, sagt Helga Schubert später noch knapp, aber sie nimmt ihnen, mit ihren Worten, den Schrecken.

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Source: welt.de