Heikel | Von Helikoptereltern zu Reinhard Mey: 10 Fakten zum Elternabend
A
wie Abrechnung
Eine Grundschullehrerin klagte neulich über Elternabende mit überzogenen Forderungen. „Elternabende sind einfach immer nur zermürbend“, schreibt sie im Online-Forum Reddit. Statt Dankbarkeit kämen „nur Beschwerden“. Klassenarbeiten und Tests soll die Lehrerin per Mail ankündigen und als sie das Thema eines Aufsatzes noch nicht nennen konnte, wurde sie von einer Mutter ausgelacht.
Auf Reddit bekommt die Lehrerin viel Zuspruch unter ihrem Beitrag. Mehrere Lehrer teilen ihr Gefühl, dass Elternabende „echt nervenaufreibend“ sein können. „Die Schere zwischen Scheißegal-ich-bin-lieber-Kumpel-Eltern auf der einen und den Helikoptern auf der anderen Seite geht – wie vieles in der Gesellschaft – weiter auseinander“, so eine andere. Ihr Ratschlag für das Verhalten am Elternabend gegenüber den Eltern? „Nie rechtfertigen“. Diese Maxime stammt von Elisabeth II. „Never complain, never explain“ war das lebenslange Mantra der Queen – und das der britischen Royals. Maxi Leinkauf
B
wie Bildungsaufstieg
Als ich zehn Jahre alt war, schickten mich meine Eltern zum Gymnasium. Sie selbst hatten nur die Volksschule besucht und hofften, dass ihre Kinder es besser haben würden. Es war die Zeit, als der Beruf der Eltern noch ins Klassenbuch eingetragen wurde. Mir sagte es wenig, ob da Rechtsanwalt oder Arbeiter stand. Ich kam aus einem acht Kilometer entfernten Dorf (→ Löweneltern) und die Sozialstruktur der Kleinstadt, in der sich die neue Schule befand, war mir unbekannt. Meine Eltern hingegen erfuhren durchaus, mit wem ich es in der neuen Klasse zu tun hatte.
Nach jedem Elternabenderzählten sie mir, wer zum Pflegschaftsvorsitzenden gewählt worden war. Und das war nicht selten ein Vater mit Doktortitel. Beeindruckt hat mich das nicht. Als einer der wenigen mit dem Bus zur Schule fahren zu müssen, war als Schicksal schon schwer genug. Joachim Feldmann
E
wie Einzugsschule
BildungsbürgerlicheVorbehalte gegen Einzugsschulen im Kiez haben auch mit der Angst vor Elternabenden zu tun. Wem begegnet man da? Sicher nicht nur Leuten aus der eigenen Bubble, die den neuen Coen-Film auch „lame“ finden oder sich selbst im letzten Sally-Rooney-Roman entdeckt haben. Stattdessen sitzen da selbstbewusste Nachbarn der migrantischen working class mit anderen Sorgen. Für manche ist jedes deutsche Amt und damit auch die Schule Quelle rassistischer und klassistischer Autorität.
Partizipative Möglichkeiten der künstlerischen Neugestaltung des Schulhofs sind einigen weniger wichtig als praktische Lernerfolge und möglichst früh Noten (→ Zensuren), während Bildungsbürger den Kids nach der Kuschel-Kita keinen Druck machen wollen. Klassenfahrt? Nicht bei allen beliebt. Der Krieg in Gaza? Für manche schmerzhafter Teil der Familiengeschichte. So viel Realität samt dazugehöriger Diskussionen ist nicht immer einfach. Viele halten sich und ihr Kind da lieber fern. Florian Schmid
K
wie Kita
Schon in den 1990ern verlangten ambitionierte Elternteile vom Kita-Personal, ganz genau ihre persönlichen Vorstellungen von Essen, Spiel und Mittagsschlaf umzusetzen. Am lautesten forderten sie das in Elternabenden. Aus Trotz wurde ich Elternvertreter. Und vertrat die Auffassung „Kita-Betreuerinnen sind keine Eltern!“ So, wie Oma und Opa nicht Mami und Papi sind.
Die Kita meiner Tochter war eine alte Villa und ihr Hogwarts. Die Kinder gingen vom Keller bis unters Dach auf Abenteuerreisen. Durften auf einem öffentlichen Spielplatz gegenüber spielen. Liefen zu zweit ohne Begleitung über eine Straße in einen Supermarkt, um fürs Frühstück einzukaufen. Meine Tochter wurde von einem Wiesel in die Oberlippe gebissen. Nach einem Sturz mussten wir mit ihr zum Kieferchirurgen. Aus dem Kind ist eine souveräne Person geworden. Michael Suckow
L
wie Löweneltern
Frau Rieck war wie viele Lehrerinnen in ihrer Zeit nur eine Lehrperson, ein Lehrkörper. Wie mag sie privat gewesen sein? Ihr Style ist heute in Mode. Strickcardigan, Midi-Wollrock. Die Brille an einer goldenen Kette. Von uns Grundschulkindern war sie gefürchtet, berüchtigt u.a. dafür, dass sie, wenn es ihrer Meinung nach sein musste, ihre Fingernägel in einem zarten Oberarm vergrub. Ein Format wie den Elternabend gab es natürlich nicht, wo man sie wegen solch zweifelhafter Praktiken zur Rede hätte stellen können. Und wer wäre auch gekommen?
Die Bauern mussten abends Kühe melken. Einmal im Sommer, ich trug einen zitronengelben Rock, ließ mich Frau Rieck erst in der Pause aufs Klo. Ich hatte aber Durchfall gehabt. Es war zu spät. Die Unterhose ging das Klo hinunter. Ein bisschen traumatisch war das und meine Eltern, mitnichten Helikopter- jedoch durch und durch Löweneltern fletschten die Zähne – ein Anruf von meinem Vater genügte, um Frau Rieck für eine lange Weile zu zähmen. Katharina Schmitz
O
wie Ottokar Domma
Ottokar Domma ist das Pseudonym des Satirikers Otto Häuser. Der studierte Pädagoge schrieb Kabaretttexte und Artikel für die Deutsche Lehrerzeitung. Am bekanntesten wurde er mit seinen Büchern um den Schüler Ottokar, Lehrer Burschelmann, den langen Schücht und andere. Darin dreht sich alles um den Schulalltag, den Domma gut kannte. Seine Erfahrungen mit Elternabenden (→ Einzugsschule) bündelte er 1977 in einem DDR-Fernsehbeitrag.
Die TV-Zeitung schreibt: „Schlimm ist es für uns Kinder, wenn die Lehrerfamilie auch noch unsere Eltern auf ihre Seite zieht. Das ist die Meinung des braven Schülers Ottokar. Kurzerhand veranstaltet er mit sieben weiteren Mitschülern einen Elternabend. Und da ja die Schüler ihren Vorbildern, sprich Erwachsenen, nacheifern sollen, kopieren sie mehr oder minder geschickt ihre Erziehungsträger.“ Tobias Prüwer
P
wie Polis
Man spricht anders miteinander, wenn man einander gegenübersteht. Das klingt schön, fast zu schön, um wahr zu sein. Und es erinnert einen in verklärender Weise an die Agora im antiken Athen. Der Platz war fester Bestandteil der Polis. Man debattierte über Krieg, Steuern und Gesetze. Die Idee war, dass jeder Bürger eine Stimme habe, dass Entscheidungen nur durch Diskurs und nicht durch Dekret getroffen werden sollten. Genau – jeder Bürger! Es war eine reine Männerveranstaltung (→ Reinhard Mey).
Heute ist der Elternabend weitgehend Frauensache oder war es zumindest in den 70ern und 80ern, wie ich von Mama weiß. Papa fand natürlich meist eine Ausrede, all dem fernzubleiben. Dann ertrug sie allein die Debatten um Klassenfahrten (→ Schulfahrt) und pädagogische Neuheiten wie Mengenlehre oder Sexualkunde-Unterricht. Hier stritt man zwar nicht um das Wohl des Staates, sondern angeblich um das der Kinder. Aber ob unter der attischen Sonne oder im Neonlicht der Grundschule – am Ende reden doch immer die, die sich selbst am liebsten reden hören. Philipp Haibach
R
wie Reinhard Mey
Das Stück beginnt mit einem gut gelaunten Gitarrenpart. Der Elternabend, wie ihn Reinhard Mey beschreibt, spiegelt das menschliche Dasein in allen Facetten. 1992 hat er diesem zwiespältigen Phänomen auf seinem Album Alles geht (1992) ein ironisches Lied gewidmet. Ein schunkelndes Country-Stück mit diskutablen Reimen wie „Nichts ist so erlabend, wie ein Elternabend / Und gar nichts macht mich strahlender / Als die Aussicht im Kalender“.
Mey, der drei Söhne hat, weiß sicher, wovon er singt, wenn es um Tagesordnungspunkte und die Wahl der Elternvertreter geht, beider alle den Kopf senken. Reinhard Mey hat auch den pazifistischen Liedermacher-Folk-Klassiker Nein, meine Söhne geb’ ich nicht geschrieben. Das Lied wurde von dem Hamburger Rapper Disarstar in diesem Sommer abgewandelt und auf die Wehrpflicht-Debatte gemünzt. Marc Peschke
S
wie Schulfahrt
24 Seiten umfasst das so genannte „ABC der Elternmitwirkung“ in Nordrhein-Westfalen. Und ein wichtiger Punkt ist die Planung von Klassenfahrten. Denn auch die müssen von den Schulgremien abgesegnet werden. Da kann es beim Elternabend hoch hergehen (→ Zensuren). Zunächst wird über das Reiseziel debattiert. Da denken alle gerne an ihre eigene Schulzeit zurück. Schon kollidieren bildungsbürgerliche Ideale (Rom oder Athen) mit sportlichen Ambitionen (Skifahren oder Segeln). Oder dem Wunsch nach dem reinen Freizeitvergnügen.
Warum nicht nach Mallorca fliegen oder an die Costa del Sol? Das ist natürlich auch eine Geldfrage. Darf die Reise mehr als 400 Euro kosten? Passt eine Gruppenunterkunft nicht besser zu einer Skifreizeit als ein Sterne-Hotel? Und ist es in einer Jugendherberge im Sauerland (siehe der Freitag 32/2025) nicht auch schön? Wie gut, dass letztendlich doch die Schüler*innen selbst entscheiden. Zumal denen es eigentlich egal ist, wo die feucht-fröhliche Zimmerparty stattfindet, an die man sich Jahre später beim Klassentreffen erinnern wird. JF
Z
wie Zensuren
Steht Ihr Kind gerade vor dem Übergang aufs Gymnasium? Da hört für Eltern der Spaß auf. Elternabende am Anfang der 6. Klasse drehen sich in Bundesländern wie Bayern oder Berlin vor allen Dingen um Übergangszeugnisse, um den Durchschnitt, also fragen Eltern, ob das Kind nicht eine extra Arbeit schreiben kann, um die Drei in Mitarbeit auszugleichen („mein Sohn ist eben schüchtern“). Wieso der eine Punkt Abzug gleich eine 2 ist? Es muss eine 1 werden, oder soll das Kind ans Ende der Stadt fahren, weil es nur dort am Gymnasium einen Platz bekam?
Sönke Wortmanns Komödie Frau Müller muss weg (2015) treibt es auf die Spitze. Wie sollen es die Kinder mit diesen unmöglichen Zensuren aufs Gymnasium schaffen? Ein außerplanmäßiges Treffen wird einberufen. Frau Müller ist schuld (→ Abrechnung). Am Ende hält die Lehrerin den Eltern den Spiegel vor. ML