Hannah Arendt und Albert Camus : Alles auf Anfang

Alles auf Anfang – Seite 1

Es gibt dieses Foto von Hannah Arendt: Sie sitzt lesend in der Mensa, ihr Tisch steht voll dreckigem Geschirr. Natürlich raucht sie. Das Bild geistert regelmäßig durch die Timelines bei Twitter, Facebook, Instagram. Manchmal für sich stehend, oft geschmückt mit einem Zitat der Denkerin. Beispielsweise: „Es gibt keine gefährlichen Gedanken. Das Denken an sich ist gefährlich.“ Ein anderes Foto, das in den sozialen Medien mindestens genauso gerne geteilt wird, zeigt Albert Camus. Den schönen Existenzialisten im Mantel, schwarz-weiß. Seine Haare akkurat nach hinten gekämmt. Auch dieses Bild wird gerne mit Zitaten garniert, etwa: „Die höchste Form der Hoffnung ist die überwundene Verzweiflung.“

Was beide Bilder auf den ersten Blick eint: Sie sind instagramable. Perfekt, ohne es sein zu wollen, zeigen sie Menschen, die interessant wirken, die etwas Auratisches an sich haben. Aber das ist nicht der einzige Grund, weshalb die beiden Denker, die in der akademischen Philosophie bis vor nicht allzu langer Zeit nur noch relativ wenig Resonanz fanden, heute so präsent sind. Beinahe jährlich erscheinen neue Bücher: Nicht nur werden Arendts Werke immer neu aufgelegt und avancieren – wie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft nach der Wahl Donald Trumps – mitunter zu Bestsellern, auch die Sekundärliteratur wächst unaufhörlich. 

Um nur wenige Beispiele zu nennen: 2020 veröffentlichte Richard J. Bernstein Hannah Arendt – Denkerin der Stunde, 2022 erschien Hannah Arendt – Wahrheit, Macht, Moral von Hans Martin Schönherr-Mann sowie Streit der Pluralität – Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt von Juliane Rebentisch. Im kommenden Herbst legt wiederum Thomas Meyer seine große Arendt-Biografie vor. Und auch in Form von Ausstellungen ist die Denkerin präsent. Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert hieß eine Schau im Deutschen Historischen Museum in Berlin, die ebenso in München und Bonn gastierte. Bei Albert Camus ist es nicht anders: Sein Roman Die Pest kletterte während der Pandemie wieder die Bestsellerlisten hoch, das Philosophie Magazin widmete ihm im vergangenen Jahr eine Sonderausgabe, der Rowohlt-Verlag bringt seinen Roman Der Fall im April in einer Neuübersetzung heraus.

Doch was ist der Grund dafür, dass Arendt und Camus heute so gleichermaßen populär sind? Warum passen gerade diese beiden Denker, die zumindest auf den ersten Blick wenig verbindet, offensichtlich so gut in unsere Gegenwart? Ein erster Hinweis findet sich in dem Interview, das Günter Gaus 1964 mit Hannah Arendt führte und mittlerweile auf YouTube über als 1,3 Millionen Mal angesehen worden ist. Wie sich hier Arendts Argumente formen, wie sie Worte findet, wie sie zweifelt: Das hat nichts von der Strenge der akademischen Philosophie, der sie sich selbst ohnehin nur am Rande zugehörig fühlte. Hannah Arendt nannte das „Denken ohne Geländer“. Damit meinte sie, dass sie keiner Denkschule, keiner Ideologie oder politischen Ausrichtung verpflichtet ist. Sie verteilt die verschiedenen Ansätze wie Farben auf einer Palette und bedient sich überall, um ein möglichst detailgetreues Bild der Wirklichkeit zu malen – was sie bisweilen aber auch auf argumentative Abwege führte. 

So skizziert sie beispielsweise in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft die Logik hinter der Ausrottung von ganzen Völkern, in dem sie erklärt, wie Menschen barbarisiert werden, ihnen also die Menschlichkeit abgesprochen wird, was einen inhumanen Umgang mit ihnen erst möglich mache. Staatenlosen widerfahre dies erst Stück für Stück, schreibt sie, während für Kolonialisierte das Barbarische praktisch der Naturzustand sei. In ihrer Analyse scheinen Indigene also wieder nichts als Wilde, was mindestens irritierend ist.

Ein Trotzdem als Leitmotiv

Abgesehen von dieser Irritation ist das Buch heute wieder erschreckend aktuell. Arendt arbeitet darin heraus, wie Deutschland der Politik Hitlers verfallen konnte. Eine beängstigend aktuelle Betrachtung, weil sie offenlegt, wie Demokratien zerstört werden, wenn es beispielsweise keine Unterscheidung mehr zwischen Lüge und Wahrheit gibt, zwischen Meinung und Tatsache. „Wie schön wäre es, in einer Welt zu leben, in der das Totalitarismus-Buch im Regal verstaubt“, sagt Barbara Hahn, Professorin für Germanistik an der Vanderbilt University in Nashville und Herausgeberin der kritischen Gesamtausgabe Hannah Arendts. „Aber das tut es nicht.“

Aus dem Kontext gerissen, können Arendts Ideen indes für alles Mögliche missbraucht werden: Ein paar Querdenker versuchten sie für sich zu vereinnahmen und eröffneten 2021 die sogenannte Hannah Arendt Akademie der Denker, eine Lehranstalt ohne Hygienemaßnahmen. Querdenken sei Denken ohne Geländer, wähnten die Gründer, verwechselten dabei aber Faktenfreiheit mit intellektueller Beweglichkeit. Hannah Arendt selbst hat sich politisch nie vereinnahmen lassen. Sie wollte dynamisch bleiben, nachdenken, also Gedachtes überdenken.

Das Besondere an Arendts Denken bleibt indes, dass sie immer wieder von vorn beginnt. Für solch ein Neuanfangen hat sie einen Begriff geprägt: die Natalität, also Gebürtlichkeit. Weil jeder Mensch in eine bestehende Welt hinein geboren wird, stellt jedes Leben einen neuen Anfang dar – und somit einen potenziellen Bruch mit dem Vorangegangenen. Die Geburt ist der Beginn eines neuen Lebens, das wiederum Neues schaffen kann, weil sich jeder Mensch die Welt handelnd und sprechend aneignet. Jeder Mensch schafft seine eigene Geschichte, die mit jeder Handlung, mit jedem Wort ein neuer Anfang ist. Ihr Leitmotiv ist ein Trotzdem. Trotz all den schrecklichen Dingen, die geschehen sind oder noch passieren werden: Jeder Mensch hat die Chance, es anders zu machen als der vor ihm. Die Vergangenheit hat keinen deterministischen Einfluss auf die Gegenwart. Deshalb gibt es immer Grund zu hoffen.

Wenn man beispielsweise an die aktuellen Proteste in Iran denkt, wird das Konzept sofort konkret. Abertausende Frauen, die sich nach Jahrzehnten der Unterdrückung die Kopftücher herunterreißen, weil sie die Möglichkeit spüren, es anders zu machen. Aber die Idee der Natalität lässt sich auch auf kleinerer, alltagsweltlicher Ebene nachvollziehen: Kein Kind ist schicksalhaft an das Leben seiner Eltern gebunden, es kann selbst für sich entscheiden, wer es sein möchte. Die Natalität scheint ein Konzept, dass hervorragend in unsere Gegenwart passt. Einerseits, weil uns derzeit an so vielen Stellen aufgezeigt wird, dass es nicht einfach weitergehen kann wie bisher. Allen voran in ökologischer Hinsicht. Gleichzeitig lässt sich das Konzept der Natalität – wenn es verzerrt durch den Filter zeitgenössischer Überzeugungen betrachtet wird – als Spielart neoliberaler Imperative missverstehen: Erfinde dich täglich neu! Sei flexibel! Entfalte dein Potenzial!    

Halt finden in der Leere

Heute ist Arendts Denken allgegenwärtig. Aber es hat vergleichsweise lange gedauert, bis diesem hierzulande der entsprechende Stellenwert im akademischen Raum beigemessen wurde. Barbara Hahn sieht dafür zwei Gründe: „Einerseits ist sie eine Frau und wir wissen ja alle, dass Frauen nicht theoretisch denken können“, sagt sie mit sarkastischem Unterton. „Und andererseits ist sie nach dem Nationalsozialismus nicht zurück nach Deutschland gekommen.“ Dass man ihr das übel nahm, sei eine zutiefst deutsche Geschichte.

In den USA sei ihr Denken schon früh auf fruchtbaren Boden gefallen. In Deutschland habe das bis in die Siebzigerjahre gedauert. Und trotz Arendts medialer Omnipräsenz scheint es zumindest im akademischen Rahmen hierzulande bisweilen immer noch Widerstände zu geben: Barbara Hahn habe drei Anläufe gebraucht, bis sie die Gutachter von der Notwendigkeit einer kritischen Gesamtausgabe überzeugen konnte – für Karl Jaspers, Martin Heidegger oder Theodor W. Adorno gibt es hingegen schon seit Längerem entsprechende Ausgaben.

Albert Camus hingegen verfügte bereits zu Lebzeiten über eine internationale Popularität, seitdem 1943 seine Bücher Der Fremde und Der Mythos des Sisyphos erschienen. Zumindest als Literat. In seiner Rolle als philosophischer Weltdeuter war er zwischenzeitig weniger gefragt. Von den Achtzigern bis in die späten Nullerjahre hinein wirkte die Existenzphilosophie etwas verstaubt, der seiner Zeit dominante Poststrukturalismus ließ die existentialistische Emphase allzu gestrig aussehen. Mittlerweile finden die Bücher des Nobelpreisträgers wieder in jeder Generation begeisterte Leser. Das mag damit zu tun haben, dass Camus sich ähnlich wie Hannah Arendt zwischen den Disziplinen – Literatur, Philosophie, Politik – bewegte. 

In Der Fremde erzählt er eine Geschichte der Einsamkeit. Sein Held Mersault ist völlig entfremdet. Unter der blendenden Sonne Algeriens hat die Welt aufgehört zu ihm zu sprechen, er wird emotionslos – bis er aus nichtigen Gründen einen Mord begeht. Es ist eine bedrückende Geschichte darüber, was geschieht, wenn ein Mensch den Kontakt zu allen anderen um sich herum verliert. Ein Motiv, das uns auch heute vielerorts begegnet. Ob es die Vereinsamung in den Lockdowns ist, der drohende Weltverlust durch die sich anbahnende Klimakatastrophe oder die grundlegende Atomisierung in einer Gesellschaft mit schwächer werdenden Sozialbindungen: Einsamkeit ist zu einer Volkskrankheit geworden – und kaum jemand hat diese so gründlich analysiert wie Camus.

In Der Mythos des Sisyphos beleuchtet Camus noch einen anderen, mit der Einsamkeit verbundenen Aspekt: Eine verstummte Welt ist für Camus kein Grund zu verzweifeln. Stattdessen sucht er in der Leere nach Halt – und findet ihn. Für Camus liegt gerade in der Sinnlosigkeit eine Chance zum Glück. Sisyphos sei deshalb ein glücklicher Mensch, weil er sich auf den Augenblick einlassen, weil er fühlen und das Eigene wahrhaft erleben könne. Und in der Sinnlosigkeit seiner Arbeit merkt er: Er hat nichts zu verlieren. Der Stein rollt den Berg hinab? Dann kann er – genau wie bei Hannah Arendts Gebürtlichkeit – einfach wieder von vorn beginnen. 

Absurd kleine Schritte

„Ähnlich wie in griechischen Tragödien stellt Camus Fragen, die immer wichtig sind“, sagt Franziska Meier, Professorin für romanische Philologie an der Universität Göttingen. „Was ist das Leben, was die Einsamkeit, was der Tod?“ Seine Antworten seien so offen, dass jede Generation eine neue Verbindung zu Camus finden könne. Jeder könne sich in die Einsamkeit von Der Fremde einfühlen oder die Verzweiflung und die daraus wachsende Hoffnung vom Mythos des Sisyphos nachempfinden. 

Es liegt dementsprechend auf der Hand, dass Camus im Angesicht von Krisen, denen vielen fast ohnmächtig gegenüberzustehen scheinen, wieder an Aktualität gewonnen hat: Sei es der Klimawandel, der Ukraine-Krieg, Inflation, Energieknappheit oder wachsende Wissenschaftsfeindlichkeit. Jedes dieser Probleme wirft uns auf uns selbst zurück und zeigt uns: Alles, was wir tun, um sie zu lösen, mag aus der Vogelperspektive besehen zu wenig sein, kann aber dennoch selbstermächtigend wirken. Weil es die Gewissheit bietet, nicht tatenlos zuzusehen. Es ist absurd, in so kleinen Schritten eine so große Strecke gehen zu wollen, aber angesichts der Alternative des Stillstands, ist jeder Zentimeter wertvoll.

Und noch auf eine zweite Weise berührt Camus‘ Sisyphos ein Mantra der Gegenwart. Denn ähnlich wie bei Arendts Gebürtlichkeit lässt sich auch das Schicksal des mythischen Dauerbergsteigers durch die Brille coaching-kapitalistischer Selbstverwirklichungsideale missverstehen. So ließe sich Camus‘ Parabel nämlich auch als ein Hoch auf die Unermüdlichkeit lesen: Man darf nur nie aufgeben, immer weitere kämpfen, Steine wälzen, um irgendwann steinreich zu werden! Gerade darum geht es Camus natürlich nicht. Doch es mag auch an dieser Deutungsmöglichkeit liegen, dass sein Denken heute wieder so präsent ist. 

Sowohl Hannah Arendt als auch Albert Camus entwickelten vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs Philosophien des Neuanfangs, die doppelt gut zu unserer Gegenwart passen. Zum einen, weil sie im Kontext des Schreckens und der Absurdität die Möglichkeit hochhalten, dass es wieder anders werden kann. Und das, ohne sich einem politischen Lager anzuschließen, ohne sich von einer Seite vereinnahmen zu lassen. Zum anderen bieten ihre Gedanken – durch halbe bis ganze Missinterpretationen zustande kommende – Anschlussfähigkeit an ökonomische und lebensästhetische Imperative der Gegenwart: Erfinde dich neu! Gib nie auf! Steh wieder auf, wenn du hingefallen bist!

Verkörpern Arendt und Camus also ein Denken, das danach ruft, immer wieder neu anzufangen, trifft das einen Nerv unserer Zeit. Und zwar so oder so.