Haftbefehl wie Unterrichtsstoff? In Deutschland leider eine schreckliche Idee

Wie hoch der kulturelle Impact tatsächlich ist, den die Netflix-Doku „Babo“ über Leben und Leiden des Offenbacher Rappers Haftbefehl ausgelöst hat, lässt sich nicht bloß an den nackten Zahlen ablesen, sondern naturgemäß auch an den Debatten, die sie auslöst. Zu den Zahlen: Die Doku ist Tagen Nummer 1 aller gestreamten Filme auf Netflix, Gesprächsthema in sämtlichen Medien-Outlets und Auslöser dafür, dass nicht nur Haftbefehl selbst, sondern auch Reinhard Mey in Spotify zahlreiche neue Streams einfahren konnte, nachdem der Rapper im Kokain-Rausch mit heiserer Stimme den 1970er-Jahre Klassiker „In meinem Garten“ intonierte (insgesamt erreichten acht Songs die Top 20 der Spotify-Charts).

Und zu den Debatten: Eigentlich kaum der Rede wert, eine Offenbacher Schülervertretung fordert Haftbefehl als Unterrichtsstoff aufzunehmen, verschiedene Kultusministerien lehnten bereits ab und deutsche Kulturredakteure debattieren, ob das nun eine gute oder eine schlechte Idee wäre, unabhängig davon, dass sie eh nicht umgesetzt wird. Dabei ist die Forderung nicht nur nachvollziehbar, in einer idealen Welt, auch in einem idealen Deutschland, wäre sie eigentlich auch gar nicht notwendig gewesen, da in diesem idealen Deutschland Haftbefehl schon vor zehn Jahren Teil der Lehrpläne gewesen wäre.

Deutscher Gangstarap im Allgemeinen, aber auch Haftbefehl im Speziellen sind relevante Subkultur und somit Spiegelbild jugendlicher deutscher Lebensrealitäten außerhalb der privilegierten großstädtischen Matcha-Latte-Biomarkt-Realität. Sie zeigt ungeschönt das, was Jugendliche abseits der sehr weißen und bürgerlichen Klimagerechtigkeitsdemos beschäftigt. Die Lebensrealität, die sich in den Texten von Haftbefehl spiegelt, ist Ausdruck von einem prekären Deutschland, von einer Jugend, die eben keine Perspektive in diesem System sieht.

Wagner, Haftbefehl, Goethe

Ja, in einem Song von Haftbefehl lernt man sehr viel über Deutschland. Über Ökonomie, Politik, Sozialdarwinismus, Raubtierkapitalismus und soziale Brennpunkte, die eben auch ein Teil von Deutschland sind, von einem Randdeutschland vielleicht, dass immer mehr zum Standard, statt zur Ausnahme wird. Das Stadtbild lässt grüßen.

Haftbefehl als Unterrichtsstoff? Schon seit den 1960er-Jahren hat sich im akademischen Kosmos das interdisziplinäre Unterfangen der Cultural Studies durchgesetzt, die nicht bloß Produkte der Hoch-, sondern auch solche der Pop-, Sub- und Alltagskultur als Träger und somit Ausdruck von Macht, Identität und sozialer Bedeutung identifizieren. Natürlich kann und muss man diese im Unterricht verwenden, natürlich verrät auch eine tiefere Analyse vin Trash-TV genau so viel wie eine Wagner-Oper über unsere Gesellschaft und ihre Funktionsweisen.

Der Unterrichtsstoff sollte neben der Vermittlung von kanonischem Kulturwissen auch die Lebensrealität der Schüler berücksichtigen. Ja, man kann aus den Leiden des jungen Werther auch heute noch sehr viel über die Empfindungsräume junger (und älterer, aber romantisch gebliebener) Menschen ableiten, man kann aber auch aus modernem Gangster-Rap tiefergehendes Wissen über kulturelle Funktionsweisen von Narration, Lyrik, Metrik, Semiotik, Performanz, Intertextualität und Sprachästhetik lernen. Eine Mischung aus Hoch- und Popkulturellen Erzeugnissen als Grundlage für die Vermittlung von Lehrstoff wäre der beste Weg.

Haftbefehl überlebte das ZEIT-Feuilleton und Kokain, aber auch den Deutschunterricht?

Haftbefehl im Lehrplan, eigentlich also nicht bloß eine gute Idee, sondern auch eine Selbstverständlichkeit, eigentlich, denn Deutschland ist nun einmal Deutschland und das deutsche Schulsystem besetzt mit Lehrkörpern, die gut beraten wären, erst einmal den Anschluss in das digitale Zeitalter nachzuarbeiten, bevor man sich dem zeitgenössischen widmet. Nein, Herr Schneider, TikTok sind nicht die kleinen Pfefferminz-Dragees und lustig ist das auch nicht mehr. Die Vorstellung, mit dem in deutschen Schulen größtenteils vorhanden Lehrertableau ernsthaft einen Haftbefehl-Song zu analysieren, ist dermaßen unsexy, dass die subversive Kraft, die Gangster-Rap eigentlich aus der Opposition zum Establishment entfaltet, sofort wieder in sich implodieren würde.

Und das würde selbst Haftbefehl, der nicht bloß Unmengen von Kokain, sondern auch die fragwürdige Apotheose zum modernen Goethe des Eppendorfer Biomutti-Feuilletons der „ZEIT“ überlebt hatte, den endgültigen Todesstoß für seine Kredibilität geben. Ja, wir brauchen modernen Unterrichtsstoff. Aber noch viel mehr moderne Lehrer, die ihn auch vermitteln können.

Source: welt.de