Gesellschaft | Die Schriftstellerin Anne Rabe verteidigt die Moral – nunmehr nebensächlich den Kapitalismus

Ein Buch über Moral? In mir stellt sich plötzlich ein Unbehagen ein. Ich denke und spüre kurz nach, da ist die Ursache auch schon gefunden. Es ist dieser alte Satz, der sich in mein Hirn eingeschrieben hat: „Moral muss man sich leisten können.“ Heutzutage auf die Moral zu pochen, frage ich mich, ist das nicht naiv? Die Schriftstellerin Anne Rabe kennt diese Anwürfe nur zu gut.

In ihrem neuen Essay Das M-Wort wendet sie sich explizit gegen die Verachtung der Moral. Denn die scheint sich nicht nur in mir, sondern in weiten Teilen der Gesellschaft manifestiert zu haben.„Die Leute haben eben auf manche Sachen einfach keine Lust mehr“, hört Rabe von den einen, „die Leute wollen sich eben nicht mehr alles vorschreiben lassen“, von den anderen.

Für Rabe sind dies Versuche, die gesellschaftlichen Verhältnisse als unverrückbare Parameter zu definieren. Doch keine Sorge, der Abschaffung des Kapitalismus steht sie skeptisch gegenüber: Bisher habe es in unserer Geschichte noch kein System gegeben, in dem die Möglichkeiten individueller Freiheit und rechtsstaatlicher Sicherheit so weitreichend durchgesetzt waren wie in kapitalistisch wirtschaftenden Gesellschaften.

Wer Hilfe braucht, muss sie bekommen

Doch zurück zum Thema: Wann hat dieser Verfall der Moral eigentlich begonnen? Und was droht der politischen Linken, wenn sie sich die Moral nehmen lässt? Rabe widmet sich in ihrem siebenteiligen Essay zunächst der Frage, wie die Moral in die Welt kam, wenn sie so umkämpft ist.

Die Antwort mag enttäuschen, doch laut Rabe, die sich dabei auf den Philosophen Hanno Sauer bezieht, wurde die Moral im Grunde genommen als etwas Notwendiges und Sinnvolles betrachtet, weil sie ein pragmatisches Kalkül war. Wer in Frieden mit seinen Nachbarstaaten lebt, kann im Kriegsfall auf ihre Hilfe hoffen – ergo lässt man sie in Frieden. So einfach, so klar.

Erst die Ausweitung von Literatur und Kunst habe zur zusätzlichen Aufwertung der Moral beigetragen. Durch ihre Fähigkeit, sich in andere einzufühlen, sich mit ihnen zu identifizieren und sich mit ihnen zu solidarisieren. Jahrhunderte später scheint die Moral zwar nicht verloren, aber umkämpfter denn je. Noch 2015 mahnte Angela Merkel: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen, dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“

Anne Rabe denkt über Eichinger nach

Wer Hilfe benötige, müsse sie bekommen, egal wie groß die Zumutung scheint. Es war diese klare moralische Haltung, die sie zur Zielscheibe werden ließ und den Kampf um die Moral exemplarisch machte. Rabe streift diesen Teil der Geschichte nur kurz, widmet sich in ihren sieben Kapiteln stattdessen politischen Zäsuren wie dem Überfall auf die Ukraine, der Wiederwahl von US-Präsident Donald Trump, dem Fall von Gisèle Pelicot und den Hartz-IV-Reformen.

Dabei zeigt sie immer wieder mit analytischer Schärfe, mit welchen argumentativen Nebelkerzen die Moral bis heute entweder für nichtig erklärt oder geschmäht wird.Dazu gehört selbstverständlich auch der Umgang mit der Vergangenheit, exemplarisch verhandelt am Beispiel des Films Der Untergang von Bernd Eichinger. Der Kritik an seiner verharmlosenden Darstellung Hitlers begegnete Eichinger 2004 mit den Worten: „Man sollte die Moral einfach rauslassen. Die Moral hat noch niemandem gutgetan.“

Rabe schlussfolgert, Eichinger habe nicht etwa eine Ergänzung und Erweiterung des Blicks auf die Geschichte gefordert, sondern damit signalisiert, er möchte sie ganz anders erzählt haben. Erst vor zwei Jahren stand Rabe mit dem Roman Die Möglichkeit von Glück, der von den Umbrüchen einer Familie aus der DDR handelt, auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Er wurde insbesondere für die Mischung aus Poesie und Realität, für seinen Feinsinn und seine Schonungslosigkeit gelobt. Auch in ihrem Essay bleibt diese Handschrift unverkennbar.

Viel Raum für persönliche Zweifel

Anne Rabe setzt auf eine Mischung aus messerscharfer Analyse und persönlicher Selbstreflexion. Indem sie Raum für persönliche Zweifel und Ohnmachtsgefühle gibt, werden Zwischentöne in all den Lagerkämpfen deutlich. Beispielsweise wenn Rabe in tagebuchartigen Einträgen von einem langjährigen Freund erzählt, dessen Erzählungen mit jedem Jahr entmenschlichter werden. Dabei erzählt sie auf eine Weise vom Hadern mit sich, ihrem Freund und der Welt, die berührt. Also, heutzutage auf die Moral zu pochen, ist das jetzt naiv? Nach dem Lesen denke ich: Nein. Klar, hartgesottene Antimoralisten werden durch diesen Essay sicherlich nicht überzeugt.

Davon geht Rabe aber auch nicht aus. Ihr Antrieb heißt Hoffnung. Und die nährt sich vor allem durch die vielen Initiativen und Vereine (vor allem in Sachsen), die gegen alle Widerstände vor Ort aktiv bleiben. Doch die Verachtung der Moral ist, wie Rabe zeigt, vielerorts nicht nur politisches Kalkül, insbesondere der AfD und der CDU. Bei mir scheint sie sich eher zu einer Abwehrreaktion entwickelt zu haben gegen die viele Arbeit, die zu tun wäre.

Aber auch die Einbußen und Gefahren, die es mit sich bringt, für die Moral einzustehen, sie zu verteidigen und hochzuhalten – auch wenn es dafür im Kapitalismus sicher viele gute persönliche, oft aber auch egoistische Gründe gibt. Rabe hingegen findet keinen guten Grund, nichts zu tun. Erst recht nicht angesichts der Freiheiten, die auf dem Spiel stehen.

Das M-Wort. Ein Essay über Moral Anne Rabe Klett-Cotta 2025, 224 S., 20 €