Genie? Ein beispielloser Visionär? Bill Gates blickt uff die Ursprünge seines Erfolgs

Was will uns der Autor damit sagen? Diese Frage hält sich hartnäckig. Mit genauso viel Elan, wie sie Schülern eingetrichtert wurde, wird sie jungen Studierenden in Literaturseminaren wieder ausgetrieben. Denn der Autor, so der Konsens, tritt hinter seinem literarischen Werk zurück und ist für die Analyse einer Erzählung, etwas zugespitzt formuliert, im Grunde egal. Interessierte können die (guten) Gründe dafür nicht zuletzt beim französischen Literaturkritiker Roland Barthes nachlesen.
Etwas anders sieht es aus, wenn es um eine Autobiographie geht, jenem seltsamen Genre, das sich irgendwo zwischen Roman und Tatsachenbericht einreiht. Und das den Leser zwangsläufig vor ein Dilemma stellt: Ist das nun wirklich so passiert? Oder doch Fiktion? Der Leser wird es nicht lösen können. Vielleicht ist das aber auch gar nicht so entscheidend. Interessanter ist die Frage, welcher Zweck damit verfolgt wird, welches Bild in der Öffentlichkeit gezeichnet werden soll – und vor allem: wozu?
Auf Buchverkäufe jedenfalls wird der Tech-Milliardär Bill Gates nicht aus gewesen sein. Mit seiner Autobiografie ging es ihm augenscheinlich um etwas anderes. „Source Code“ heißt sie und ist ab heute überall zu haben. Sie führt auf knapp 400 Seiten durch die Kindheit und Jugend des Microsoft-Gründers, gespickt mit vielen Bildern aus dem frühen Leben eines Jungen und Teenagers, der einmal einer der mächtigsten Männer der Welt werden soll.
„Den größtmöglichen Erfolg auf der Welt“
Peu à peu wird der Leser in die Familie Gates eingeführt, lernt Großmutter „Gami“ kennen, Mutter „Mary“, Vater (ebenfalls) Bill, gleichzeitig auch eine Welt unter dem Diktat der Leistung und des Wohlstands im reichen Seattle der sechziger Jahre. Großväterlich erzählt „Source Code“ vom Aufwachsen in einer Familie, die den Kennedys nacheiferte und sich ganz auf gesellschaftliches Prestige ausrichtete. Besonders eindrücklich ist ein Zitat aus einem Brief von Mutter Mary an ihren Man, zu Beginn der Erzählung: „Wir wollen beide dasselbe, nämlich den größtmöglichen Erfolg auf der Welt, den man auf ehrliche und anständige Weise erreichen kann.“
Es darf also nicht verwundern, es geht viel um Leistung: Zu lesen ist von den Schulnoten der Großmütter, den Noten der Schwester Kristi, den überaus erfolgreichen Karrieren des Vaters und der Mutter. Und darüber, wie sich der junge Bill in diesen Kontext einfügt. Ein ungestümes Kind wird vorgestellt, wissbegierig, altklug und durch seine Eltern von Beginn an auf Wettkampf und Erfolg geeicht. Mit der Zeit schien es, sinniert Erzähler Gates an einer Stelle, als verfolge Mutter Mary mit ihren Kindern ein ähnliches Ziel wie bei einem Rennpferd: Gezüchtet und aufgezogen, um zu gewinnen.
Heraus kommt ein Junge mit einem überaus wachen Verstand, ein Mensch, der einen immensen Drang verspürt, sich zu messen und besser zu werden, seine intellektuellen Grenzen zu dehnen. Ein Teenager, mit einem „Drive“, der ihn dazu anstachelt, wie ein Besessener bis zur vollkommenen Erschöpfung zu arbeiten und zu lernen. Und dem alle Möglichkeiten dafür offenstehen.
In eine Geschäftswelt der Erwachsenen geworfen
Plastisch ist beschrieben, wie Gates während seiner Zeit als Schüler der exklusiven Lakeside-Schule – einer Top-Adresse für Sprösslinge der High Society von Seattle – erste Gehversuche im Programmieren machte. Wie er sich das Handwerk an einer 500.000 Dollar teuren Maschine beibringen konnte. Wie er in seinem letzten Schuljahr für ein bedeutendes Versorgungsunternehmen arbeitete und das Computerterminal 100 Stunden lang nicht verließ, weil er bis zur Besinnungslosigkeit programmierte. Ohne zu duschen.
Dass Gates diese Fähigkeiten einmal in den Dienst einer eigenen Firma stellen wird, wirkt in „Source Code“ fast wie eine logische Selbstverständlichkeit. Der junge Bill wird von Beginn an in eine Geschäftswelt der Erwachsenen geworfen. Wie beiläufig berichtet der Text davon, wie die Freunde der Eltern sesshaft wurden, Kinder bekamen – oder eben ein Unternehmen gründeten. Als der Vater seinen Sohn bei seinen ersten Programmierjobs als Teenager unterstützte, stellte er ihm seine Dienste, „wie jeder seriöse Anwalt“, natürlich in Rechnung, wenn auch sicherlich zu einem Symbolbetrag. Es ist ein Aufwachsen in einer durch und durch ökonomischen Weltsicht.
Vielleicht erkannte Gates deshalb, dass er mit seinen Programmierfähigkeiten eine Lücke nutzen kann. Die aufstrebende Computerindustrie der 1960er- und frühen 1970er-Jahre verschrieb sich ganz der Hardware. Software war und sollte – ganz im Sinne des Hippi-Ethos – kostenlos sein. „Source Code“ skizziert, wie Gates und sein Schulfreund Paul Allen genau darin eine Chance witterten: Wenn Computer immer billiger werden, sich in Unternehmen und Privathaushalten verbreiten, dann entsteht eine nahezu unbegrenzte Nachfrage nach hochwertiger Software. Es schlug die Geburtsstunde von Microsoft.
Die Biografie macht aus Gates privilegiertem Start keinen Hehl, im Gegenteil: Sie betont die Umstände und Möglichkeiten, die er hatte, um seine Fähigkeiten zu entwickeln. Gates wird dabei nicht zu einer Art genuinem „Genie“ verklärt, sondern zu einem Kind, das gewisse Begabungen zeigte und dessen ehrgeizige Eltern alles daransetzten, sie vollends auszureizen. Dabei reflektiert er auch, wie andere ihn in Harvard überflügelten und warum er nicht das Zeug zu einem Mathematiker von Rang und Namen hatte.
Bemerkenswert ist, welche Ereignisse die Erzählung jenseits vom Leben des späteren Milliardärs begleiten. „Source Code“ handelt von den ersten zwanzig Lebensjahren von Bill Gates, umreißt also in etwa die Jahre von 1955 bis 1975. Dabei thematisiert er sowohl das Grundsatzurteil Roe v. Wade als auch die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die Stigmatisierung von Homosexuellen in den frühen siebziger Jahren und immer wieder die Chancenlosigkeit von Frauen in einer männerdominierten Gesellschaft. Das hat, mit Blick auf die Eingangsfrage, Statementcharakter in einer Welt, in der ein amtierender US-Präsident „Wokeness“ gar für einen Flugzeugabsturz verantwortlich macht.
Kurz und knapp: Nicht nur Microsoft- Enthusiasten werden der Autobiografie etwas abgewinnen können, es lohnt sich eine Lektüre mit einer politischen Brille. Bei all dem darf man sich allerdings nicht der Illusion hingeben, man habe es hier mit authentischen Gedanken zu tun, die Onkel Bill abends am Kamin zu Papier gebracht hat. Allein ein Blick in das Verzeichnis der Danksagungen, das die Beteiligten des Projekts auflistet, zeigt: es ist wohl doch eher Selbstmarketing. Das macht „Source Code“ aber nicht minder lesenswert.