Gegen Armut demonstrieren: Das ist nicht so einfach!

In Deutschland gibt es ungefähr 14,1 Millionen armutsbetroffene Menschen. Die allerwenigsten von ihnen nehmen an Demonstrationen gegen die politischen Bedingungen teil, die sie in die Armut treiben. Nicht, weil ihnen ihre Lage egal wäre. Sondern weil sie nicht in der Lage sind, auf die Straße zu gehen.

Bei der Großdemonstration zu #IchbinArmutsbetroffen vergangenen Oktober in Berlin kamen 250 Menschen. Für uns Armutsbetroffene war das ein Erfolg. Die meisten von uns sind genau das: finanziell schwach. Das heißt, das Geld für ein Ticket nach Berlin aufzubringen ist schon eine Herausforderung, und wenn die Frage aufkommt: Lebensmittel oder Demonstration? Dann ist Überleben wichtiger.

Aber das Problem ist nicht nur das konkrete Geld auf dem Konto. Armutsbetroffen sind in Deutschland nicht nur Bürgergeld- und Grundsicherungsempfänger, sondern auch Rentnerinnen, Kinder, Auszubildende, Studentinnen, Aufstocker (working poor), Alleinerziehende, pflegende Angehörige, chronisch Kranke und Behinderte.

Wie sieht der Alltag dieser Personengruppen aus? Ein alleinerziehender Elternteil ist vorrangig mit den Kindern beschäftigt, und mit Kindern wird es schwierig, auf eine Demonstration zu gehen, vor allem in eine andere Stadt. Alltagssorgen und Stress belasten oft so sehr, dass kein Raum für Politik bleibt. Nicht zu vergessen die Probleme mit Unterhaltszahlungen und Ämtern, deren Bewältigung viel Zeit beansprucht. Als pflegender Angehöriger werden sie nicht für längere Zeit das Haus verlassen, wenn sie ihre Angehörige dafür alleine lassen müssen. Das Mitnehmen eines Pflegebedürftigen auf eine Veranstaltung ist hingegen voller Hürden und Stress für beide. Auch psychische Erkrankungen wie Depression, Ängste, besonders Sozialphobien behindern den Armutsbetroffenen teils genauso stark wie körperliche Erkrankungen: eine Teilnahme an einer Veranstaltung in der Öffentlichkeit mit vielen anderen Menschen ist für viele hier undenkbar. Und wer ein mal mit einem Rollator oder einem Rollstuhl Bahn gefahren ist, weiß, mit wie viel Aufwand und Problemen sich eine Reise gestalten kann.

Wenn die Demonstration an einem Samstag stattfindet, sind viele Aufstocker am Arbeiten – genauso wie die Auszubildenden von vielen Berufen, in denen am Wochenende gearbeitet werden muss.

Armut kann jeden treffen – das sehen wir uns nicht gerne an

Hinzu kommt die Scham. Sich öffentlich zu seiner Armut zu bekennen, ist das Mutigste, das ein armutsbetroffener Mensch tun kann, denn die Vorurteile gegen ihn sind gesellschaftlich präsent. Klassismus ist in Deutschland ein unterschätztes Problem. Wir sind eine Leistungsgesellschaft. Jeder, der keine Leistung erbringen kann, aus welchen Gründen auch immer, wird kritisch beäugt. Schlimm wird es, wenn die Person verurteilt wird. Unterstellung der Schuld, des absichtlichen Ablehnens des Systems, der Faulheit oder der Raffgier sind Anschuldigungen, die sich eine arme Person anhören muss. Dabei ist das vermutete Nicht-Arbeiten-Wollen aus vielen Gründen ein Wirklich-nicht-Arbeiten-Können.

Und wieso gesellen sich diejenigen, die es sich leisten könnten, zu einer Demonstration zu gehen, nicht dazu? Nun ja: Sich mit den Hintergründen von Armut zu beschäftigen, ist nicht so naheliegend. Es ist kein Thema, das gute Laune macht, eher das Gegenteil: Mir wird gezeigt, wie es auch mir ergehen könnte. Die eigene finanzielle Unsicherheit wird hervorgehoben, und ja: Armut kann jeden von uns treffen, es reicht eine Krise, ein Unfall, eine Krankheit aus. Die Armut ist nicht weg, sie ist immer in Reichweite. Das hören viele nicht gerne.

Uns Armen wird dann gerne vorgeworfen, nicht politisch genug zu sein. Entweder sind wir Nichtwähler oder haben das Kreuz an falscher Stelle gesetzt und sind daher selber Schuld. Ja, wählen kostet nichts. Aber wie viele Parteien kennen Sie, die sich aktiv um das Klientel der Armutsbetroffenen bemüht? Armutsbetroffenen fehlt das Kapital, um interessant zu sein. Dazu kommt der Frust: Welche Partei wird etwas ändern? Und dazu kommen die Skandale um Korruption und Verschwendung, wie etwa der Maskendeal, oder, noch viel größer: der Cum-Ex-Skandal. Gerade wir Armutsbetroffenen fühlen uns dadurch verhöhnt.

Das alles ändert nichts daran: Letzten Endes liegt die Entscheidung bei uns, bei der nächsten Wahl mitzumachen. Oder zu versuchen, auf eine Demonstration zu gehen, die für bessere Lebensbedingungen kämpft. Ich kann nur ermutigen, denn jede nicht abgegebene Stimme, ob auf dem Wahlzettel oder auf der Straße, ist eine vertane Chance.