Geflüchtete Palästinenser in Ägypten: „Der Krieg hat uns das Kostbarste genommen“
Auf einem der Sofas in seinem Wohnzimmer reiht Ahmad Jumaa behutsam drei goldene Bilderrahmen auf. Die Fotos haben der 47-Jährige und seine 41-jährige Frau Doaa Dawood vor einigen Wochen entwickeln lassen. Ein Bild zeigt den 17-jährigen Yasser, einen schmächtigen Jungen mit Oberlippenflaum, der laut seinen Eltern davon geträumt hat, Architekt zu werden. Auf dem zweiten ist Yazan zu sehen, Yassers chemiebegeisterter Zwillingsbruder mit dem gleichen Grübchen am Kinn. Und vom dritten Bild lächelt Mustafa, 14 Jahre. Vielleicht, glaubt seine Mutter, hätte ihr Jüngster irgendwann als Übersetzer gearbeitet, so gut sei er in Englisch gewesen.
„Aber dann begann der Krieg“, sagt die Palästinenserin. „Er hat unsere Träume zerstört und uns das Kostbarste genommen.“
Die drei Kinder von Jumaa und Dawood wurden im Oktober 2023 bei einem israelischen Luftangriff im Gazastreifen getötet, ihre Eltern schwer verletzt. Zur weiteren medizinischen Behandlung wurde Dawood Ende Februar 2024 über den Grenzübergang Rafah nach Ägypten gebracht, Jumaa durfte sie nicht begleiten. Er sei seiner Frau zwei Monate später im Gegenzug für 5.000 Dollar gefolgt, sagt er. So viel und teilweise noch mehr verlangte eine selbsterklärte ägyptische Reiseagentur von Tausenden Palästinensern wie Jumaa für das Schleusen über die Grenze. Bis das israelische Militär den Grenzübergang Rafah Anfang Mai auf palästinensischer Seite einnahm und dieses System damit beendete.
Mehr als ein Jahr nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und dem Beginn des Krieges im Gazastreifen haben laut der palästinensischen Botschaft in Kairo rund 100.000 Menschen aus Gaza Zuflucht in Ägypten gefunden. Während sich im Gazastreifen nach Angaben der Vereinten Nationen 42 Millionen Tonnen Schutt auftürmen und mittlerweile rund 60 Prozent aller Gebäude zerstört oder beschädigt wurden, sind die Geflüchteten in Ägypten vor Bomben sicher. Aber viele Palästinenserinnen und Palästinenser sind traumatisiert und haben kaum mehr Geld, um sich zu versorgen. Auch ist ihr Aufenthaltsstatus in Ägypten ungeklärt. Zehntausende finden sich so in einem Schwebezustand wieder.
Angewiesen auf Geld von Verwandten im Ausland
Bis Oktober 2023 hätten Jumaa und Dawood trotz aller militärischen Eskalationen der vergangenen Jahre ein vergleichsweise komfortables Leben im Gazastreifen geführt, sagen sie. Jumaa lehrte Marketing und Public Relations an einer der Universitäten, betrieb nebenher eine kleine Werbefirma. Dawood kümmerte sich um Haushalt und Kinder. Geräumig sei die Wohnung der damals noch fünfköpfigen Familie im Norden von Gaza-Stadt gewesen. Auf seinem Handy spielt Jumaa ein Video ab, auf dem Yasser, Yazan und Mustafa auf den Sesseln und Sofas im Wohnzimmer fläzen. Alltagsszenen, die es so nicht mehr gibt.
Nach mehreren Bombardierungen in ihrer Nachbarschaft sei die Familie in den ersten Kriegstagen ins Haus von Jumaas Schwester geflohen. Kurz darauf wurde es getroffen. Jumaa erlitt großflächige Verbrennungen. Auf Fotos, die er auf seinem Handy zeigt, ist sein einbandagierter Körper und sein geschwollenes Gesicht zu sehen. Zwei große, schwülstige Narben am linken Arm zeugen von Dawoods Verletzungen. Ihre linke Hand hätten die Ärzte in Gaza zunächst amputieren wollen, bis heute kann Dawood sie kaum bewegen. Die Nerven, sagt sie, seien zu stark beschädigt worden.
„Wir glaubten, nur zwei, drei Monate in Ägypten bleiben zu müssen“, sagt Jumaa. Sie hätten nicht damit gerechnet, dass der Krieg so lange andauert. Es kränke seinen Stolz, sagt er, dass sie zum Überleben nun auf Verwandte angewiesen seien, die in den Vereinigten Arabischen Emiraten leben und ihnen regelmäßig Geld schicken würden. Sein 45-tägiges Touristenvisum für Ägypten ist längst abgelaufen, wie das von Zehntausenden weiteren Palästinensern. Ohne gültige Papiere können sie kein Bankkonto oder Geschäft eröffnen, haben keinen Anspruch auf eine Krankenversicherung. Die ägyptischen Behörden zeigen bisher kein Interesse daran, den Aufenthaltsstatus geflüchteter Palästinenser zu klären. Aber sie dulden sie im Land – noch.