Gefährliche Pestizide: Giftregen aus deutscher Produktion

Riskante Pestizide, die in der EU längst verboten sind, werden in Brasilien auf Farmen versprüht. Dokumente zeigen, dass die Plantagen auch Firmen wie Nestlé beliefern.

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Gefährliche Pestizide

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Gefährliche Pestizide: Auf den riesigen Farmen in Brasilien werden Pflanzenschutzmittel, die in Europa verboten sind, per Flugzeug ausgesprüht.
Auf den riesigen Farmen in Brasilien werden Pflanzenschutzmittel, die in Europa verboten sind, per Flugzeug ausgesprüht.

Giftregen aus deutscher Produktion – Seite 1

Wenn es leicht sauer zu riechen beginnt, nach
verschimmelten Orangen, dann laufen seine Kinder nach Hause, sagt der
brasilianische Biobauer Jose Carlos de Almeida. Oft sei es dann schon zu spät.
Bei vielen Anwohnerinnen und Anwohnern setzten dann tränende Augen, Kopfschmerz
oder Atemprobleme ein, manchmal kratze die Haut oder es bildeten sich kleine
Bläschen.

Der Grund, so erzählt es Almeida in einem
WhatsApp-Telefonat mit ZEIT ONLINE, seien die „Angriffe aus der Luft“. Ein
benachbarter Großgrundbesitzer besprühe seine Felder hier in Nova Santa Rita,
einer Kleinstadt nahe der Hafenstadt Porto Alegre im Süden Brasiliens, mit
Pestiziden, „manchmal mehrmals pro Tag“. Diese in der EU verbotene Praxis ist in vielen Regionen Brasiliens noch erlaubt, manche Einsätze hat
Almeida auf Fotos festgehalten. „Beim letzten Einsatz im Januar war ich gerade
bei der Salaternte“, sagt er. Der Giftregen wehe auch zu den
Feldern seiner Biokooperative herüber. Er verursache Ernteausfälle. „Er
zermürbt die Menschen hier physisch und psychisch“, sagt Almeida.

Wegen Krebsgefahr längst in der EU verbannt

Seit Jahren bereits versuchen betroffene Kleinbauern
wie Almeida gegen den Chemikalieneinsatz der Großgrundbesitzer vorzugehen,
meist ohne Erfolg. Im Fall der Biobauern von Nova Santa Rita allerdings
ordnete eine Bundesrichterin Anfang 2021 den sofortigen Stopp des
Pestizideinsatzes an. Dieser sei zwar nicht verboten, aber der Einsatz aus der
Luft beeinträchtige die Produktion der benachbarten Landwirte auf inakzeptable
Weise. Die Regelungen für den Einsatz müssten deutlich nachgebessert werden.
Inzwischen darf offenbar wieder gesprüht werden. Laut Almeida geschieht dies
auch mit deutscher Hilfe.

In einer Zivilklage der Landwirte sind
die großen Namen der Agrochemie aufgeführt, darunter auch der Ludwigshafener
Chemiekonzern BASF. In der EU verbotene Wirkstoffe der großen Unternehmen
fanden sich auch auf einigen Blattproben der Landwirte wieder, wie
Laboruntersuchungen zeigen. Manche Substanzen sind so bedenklich, dass sie,
etwa wegen ihrer potenziellen Krebsgefahr, längst aus der EU verbannt sind.  

Recherchen des Investigativnetzwerks
Lighthouse Reports und Repórter Brazil zusammen mit dem Guardian, Mediapart und
ZEIT ONLINE zeigen nun, dass die umstrittenen Pestizide auch auf Orangen- und
Zuckerfarmen zum Einsatz kommen, die Nahrungsmittelkonzerne wie Nestlé oder
Coca-Cola beliefern. Dem Netzwerk liegen Hunderte Seiten von Spritzprotokollen
aus dem Bundesstaat São Paulo vor, in denen die Flugunternehmen – oftmals
handschriftlich – festgehalten haben, welche Stoffe sie wann über den Feldern
verteilt haben. Diese Protokolle schickten sie an das brasilianische Landwirtschaftsministerium.

Hunderte Seiten Spritzprotokolle

Die Dokumente zeigen Einsätze auf Tausenden Hektar, etwa am 16. Dezember 2020: An diesem
Tag soll ein Flieger das BASF-Fungizid Opera in der Ortschaft Pradópolis
über 219 Hektar Zuckerrohr versprüht haben. Opera enthält den in der
EU nicht mehr zugelassenen Inhaltsstoff Epoxiconazol, der im Verdacht steht, krebserregend zu sein. Die Plantage,
auf der dieser Stoff versprüht worden sein soll, gehört laut den Unterlagen zum
Konzern São Martinho, einem der größten Zuckerhersteller der Welt, der auch den
Schweizer Nahrungsmittelmulti Nestlé beliefert.

Fragt man São Martinho und Nestlé per E-Mail nach dem Pestizideinsatz,
dann antworten Sprecher beider Unternehmen, man halte sich strikt an die
geltenden Gesetze in Brasilien. „Wir verfolgen stets die regulatorischen
Entwicklungen in allen Ländern, in denen wir tätig sind, um die vollständige
Einhaltung der Vorschriften für alle unsere Produkte sicherzustellen“, schreibt
Nestlé.

Sowohl Nestlé als auch São Martinho betonen in der Öffentlichkeit zudem
ihr Engagement für die Umwelt. Beide Unternehmen sind dem UN Global Compact für
nachhaltiges Wirtschaften beigetreten, der Umwelt und Menschenrechte schützen
soll. Nestlé engagiert sich auch für Artenvielfalt, „weil gute Lebensmittel
gute Umweltbedingungen brauchen“. Man unterstütze etwa Gemüsebauern in
Niedersachsen beim Anlegen von Blühstreifen.

Die Datensätze seien „sehr besorgniserregend“

In Brasilien scheint das Unternehmen jedoch andere
Prioritäten zu haben. Dort lässt
sich Nestlé unter anderem von Tereos beliefern, einer französischen Zucker- und
Ethanolkooperative. Die setzt laut den Dokumenten, die ZEIT ONLINE vorliegen,
auf das Produkt Actara mit dem Wirkstoff Thiamethoxam. Dieses Insektizid gilt
laut Greenpeace als Bienenkiller und wird von der
Europäischen Chemikalienagentur als potenziell fruchtbarkeitsschädigend
eingestuft. 

Auch Tereos betont
auf Nachfrage, sich strikt an geltende Vorschriften zu halten. Doch während die
Firma in Frankreich sogar Saatgut zurückkaufte, das mit bienenschädlichen
Stoffen beschichtet war, scheint sie in Brasilien weniger vorsichtig. Mittel
wie Actara, so argumentiert der Tereos-Sprecher, würden schließlich auch bei „vielen anderen lokalen Pflanzen wie Soja, Mais, Orangen oder Gemüse genutzt“.
Syngenta und BASF halten ihre Produkte bei vorschriftsmäßiger Anwendung für
sicher und verweisen auf umfangreiche Schulungsprogramme für Landwirte. Die chemischen Flugzeugeinsätze halten die Unternehmen für weniger
problematisch: Es seien Techniken entwickelt worden, um eine gezielte
Anwendung aus der Luft zu gewährleisten, erklärt BASF. Die Sprühflüge würden, schreibt Tereos, außerdem GPS-kontrolliert und
das brasilianische Agrarministerium sehe diese als risikolos, solange sie nach
Vorschrift verliefen. 

Das Agrarministerium der auf Export getrimmten brasilianischen
Landwirtschaft sah in den vergangenen Jahren jedoch vieles als risikolos an.
Die unter Präsident Jair Bolsonaro eingesetzte Agrarministerin Tereza Cristina,
Tochter von Großgrundbesitzern und in einigen brasilianischen Medien „Muse
der Agrargifte“ genannt, genehmigte in ihrem ersten Amtsjahr 503 Pestizide neu. Greenpeace schätzt, dass in Brasilien mindestens 149 Produkte
eingesetzt werden, die in der EU verboten sind. Wenn etwa Nestlé ausführt,
Lieferanten dürften nur „gesetzlich zugelassene Pestizide“ verwenden, dann können
sie in Brasilien aus dem Vollen schöpfen.

Der Zuckerproduzent São Martinho setzt nach eigenen Angaben in großem
Umfang auf biologische Schädlingsbekämpfung. Die Ausbringung aus der Luft sei
behördlich genehmigt, werde aber nur ausnahmsweise genutzt. Allein für Dezember
2020 finden sich in den Dokumenten, die ZEIT ONLINE vorliegen, allerdings Einträge
über ein Dutzend Lufteinsätze auf weit über 1.500 Hektar des Unternehmens.

Möglicherweise krebserregende Substanzen versprüht

Nicht viel besser soll es den Spritzprotokollen zufolge auf den
Orangenfeldern von Citrosuco aussehen. Das brasilianische Unternehmen ist der weltgrößte
Hersteller von Orangensaftkonzentrat und beliefert sowohl Coca-Cola als auch
Konkurrent PepsiCo. Citrosuco und Coca-Cola betonen, sich hinsichtlich der
Pflanzenschutzmittel strikt an nationale und internationale Gesetze und strenge
Standards zu halten. PepsiCo ließ Fragen unbeantwortet. Seine Felder soll
Citrosuco den Dokumenten zufolge mit Bifenthrin benebeln. Jeroen van der Sluijs,
Professor für Risikomanagement am Fachbereich Chemie der norwegischen Universität
Bergen, hält diesen Wirkstoff für ähnlich problematisch wie die BASF-Substanz
Epoxiconazol: Beide Stoffe seien „mit möglichen Fruchtbarkeitsschäden verbunden
und mit erhöhtem Risiko für verschiedene Formen von Krebs“, sagt er. BASF teilt
dazu mit, aus ihnen zugänglichen Studien lasse sich ein „Zusammenhang zwischen
der Anwendung von Opera und Krebserkrankungen“ nicht belegen.

Van der Sluijs beschäftigt sich bereits seit Jahren mit den Wirkungen
von Pestiziden. Die Datensätze aus dem brasilianischen Landwirtschaftsministerium
hält er für „sehr besorgniserregend“: Einige der eingesetzten Substanzen seien „nicht nur krebserregend, sondern könnten auch das zentrale Nervensystem
schädigen“. 

Eine Studie der brasilianischen Universität Santa Catarina zeigte im vergangenen
Jahr, dass die Krebssterblichkeit in den Hochburgen des Zucker- und
Zitrusanbaus der Region São Paulo, wo sich auch viele der untersuchten Farmen
befinden, höher ist, als im brasilianischen Durchschnitt.

Viele Pestizide erreichen auch deutsche Konsumenten

Experten wie van der Sluijs sprechen angesichts des Doppelstandards bei
der Pestizidhandhabung – Vorsicht in Europa und volles Risiko in
Schwellenländern – von „molekularem Kolonialismus“. Der Export gefährlicher
Pestizide, sagt der UN-Sonderberichterstatter für Giftstoffe und Menschenrechte
Marcos Orellana gegenüber Partnern von ZEIT ONLINE, verschärfe „Umweltungerechtigkeiten“
und sei „eine Form moderner Ausbeutung“. Er sieht die Chemiekonzerne in der
Verantwortung: Diese müssten „sicherstellen, dass ihre Lieferketten frei von
Menschenrechtsverletzungen sind“, wozu auch gehöre, dass Menschen keinen giftigen
Pestiziden ausgesetzt werden. 

Das jedoch ist in vielen Ländern des Globalen Südens oft tägliche
Realität. Orellana sieht Europa in der Pflicht, beim Pestizidausstieg
voranzugehen. Hier, wo mit BASF, Bayer und Syngenta drei der größten
Produzenten sitzen, dürfe eine nachhaltige Regulierung nicht weiter verzögert
werden.

Ein milliardenschweres Geschäft

Doch der Lobbydruck ist groß, denn mit rund 85 Milliarden
Dollar Umsatz pro Jahr ist der weltweite Pestizidmarkt ein gewaltiger
Wirtschaftsfaktor. Gut 15 Milliarden Dollar, schätzen Experten, werden mit hochgefährlichen Stoffen umgesetzt. Allein das Syngenta-Produkt Thiamethoxam,
zeigte eine Studie, brachte im Jahr 2018 rund 242 Millionen Dollar ein.

Entsprechend schwer tut sich die Politik. Nicht mal das Ziel der
EU-Kommission, den Pestizideinsatz in der EU bis 2030 um die Hälfte zu
verringern, ist bisher in eine verbindliche Regelung gegossen worden. An einer
Verschärfung der Ausfuhr gefährlicher Chemikalien wird jetzt immerhin
gearbeitet, eine Folgenabschätzung ist auf dem Weg.

Auch in Deutschland wurde die Ausfuhr gesundheitsschädlicher Pestizide lange
kaum reguliert. In Afrika förderte die Bundesregierung sogar Projekte, bei denen in der EU verbotene Substanzen eingesetzt
wurden.

Regierung plant erstes Exportverbot

Nun bereitet Landwirtschaftsminister Cem Özdemir ein Exportverbot vor, ein kleines zumindest. Es soll sich auf
die gut 8.000 Tonnen Pestizidprodukte beziehen, die in der EU verbotene
Substanzen enthalten und von Unternehmen wie BASF aus Deutschland ausgeführt
werden. 

„Gemessen daran, dass deutsche Exporte seit Jahrzehnten die Gesundheit
und Umwelt von Millionen Menschen vergiften, wird die geplante Verordnung nicht
reichen“, sagt Susan Haffmans von der gemeinnützigen Organisation Pestizid
Aktions-Netzwerk. „Sie wird ja nur den Export fertiger Produkte regeln, die
Ausfuhr der reinen Wirkstoffe, eine fast viermal so große Menge, lässt sie
völlig außen vor.“ Özdemir müsse nacharbeiten und sich zusätzlich für ein
EU-weites Exportverbot einsetzen, damit es nicht bei
einer „Schmalspurlösung“ bleibe, die der Industrie große Schlupflöcher
biete. BASF ließ bereits wissen, ein Exportverbot
würde die „Verlagerung von Produktion“ bewirken.

Wo immer die Stoffe auch produziert werden: Viele Pestizide erreichen
auch deutsche Konsumenten. Auf Limetten aus Brasilien fand Greenpeace gerade einen „Giftcocktail“ aus sieben Pestiziden. Sechs
davon waren in der EU nicht zugelassen.