Geduld | Künstlerin Galli: Was macht die 81-Jährige für jedes eine neue Generation so interessant?

Grotto, der Raum in einer alten Einkaufspassage im Berliner Hansaviertel mit seinen großen Fensterflächen und gekachelten Außenwänden zeigt viele verschiedene Künstler*innen. Eine Salatbar nennt Leonie Herweg das, die den Raum betreibt. Dabei kommt es zu neuen Dialogen, UdK-Absolvent*innen zeigen zwischen etablierten, manchmal historischen Positionen. Bei Ausstellungseröffnungen füllt sich die einstöckige Passage mit Leben. In dem Raum, der wenig mit einer unterkühlten White-Cube-Galerie gemeinsam hat, treffen sich Menschen aus der Nachbarschaft und die Kunstwelt, Leute, die sich auf Berliner Vernissagen sonst eher selten begegnen.

Der Projektraum stellt nun Galli aus, die Ausstellung ist klein, zeigt die Arbeit der Malerin aber in hochkonzentrierter Form. Ein Bild hängt an der Wand, es zeigt ein blaues Haus vor einem dunklen, stürmischen Himmel. Aus dem Fenster greift eine Hand nach dem Baum daneben, als würde sich da jemand das Außen ins Innen holen wollen. Oder ist das doch eine Episode aus Ovids Metamorphosen, eine Geschichte über Liebende und Bäume, von denen es dort so viele gibt? Die Dunkelheit jedenfalls und die Motive – finsteres Haus, kahler Baum, Sturm und drängendes Begehren – erinnern an die romantisch-deutsche Malereitradition.

Schräg gegenüber lehnt ein anderes Bild an der Wand, auf vier farbbesprenkelten Ziegeln ruhend. Auf diesem größeren dominiert ein Schultafelgrün, fast monochrom, darauf blassweiße Umrisslinien: Hände, Möbel, aber so, als wäre das alles erst im Werden. Auf einer roten Trittleiter in der Mitte des Raums steht eine Keramik, als hätte sie dort jemand nur kurz abgelegt. Man wüsste gerne mehr darüber, aber das korrallenförmige Stück hat Gallis Studiomanagerin Annabell Burger im Friedenauer Atelier der 81-jährigen Künstlerin gefunden, die kleine Leiter auch, und das Objekt hat weder einen Titel noch ist das Jahr bekannt.

1969 zog es Galli nach Berlin: „Da war schon die Hölle los“

Eigentlich macht die Künstlerin auch gar keine Keramiken, das, so sagte sie, sei ein einmaliger Versuch gewesen. Fragil und organisch steht das Arrangement da, als wäre es so aus dem Atelier herübergetragen worden, und die Leiter ist ein notwendiges Hilfsmittel für die kleinwüchsige Malerin. Dann ist da noch ein kleines Papiermodell, das nicht Teil der Präsentation ist, weil es bei einem Windstoß umfallen würde. Die aus Papier ausgeschnittene und mit Kugelschreiber bestrichelte Figur sieht aus wie einem Comic entsprungen oder als wäre eine Figur von Francis Bacon von der Leinwand gestiegen und hätte sich als eigentlich ganz gut gelaunt herausgestellt.

Die Künstlerin, 1944 geboren als Anna-Gabriele Müller in Heusweiler, in der westdeutschen Provinz, studierte in den 1960ern in Saarbrücken Malerei. „Ich bin 1969 nach Berlin“, sagte sie 2015 in einem Interview, „und da war schon die Hölle los. Aber ich wollte endlich aus dem wohlbehüteten Elternhaus raus, sonst wäre ich versauert.“

Galli war mittendrin und zugleich am Rand einer Kunstbewegung, die sich gegen die graue BRD und die unterkühlte Konzeptkunst stellte, die ab den 1960ern aus den USA importiert wurde. Wenn man die westdeutsche Kunstgeschichte betrachtet, landet man schnell bei allzu einfachen Gegenüberstellungen: konzeptuell und expressiv, unterkühlt und wild, intellektuell und intuitiv.

Publikum, Kritik und Markt haben sich am Minimalismus sattgesehen, dessen erstes Opfer die gegenständliche Malerei war. „Hört auf zu malen“, malte Jörg Immendorff 1966 auf ein Bild. Dann, Ende der 1970er, kam die Malerei zurück. Manche nannten das Neo-Expressionismus oder Neue Wilde. Die Geste mit dem Pinsel auf der Leinwand war wieder da und irgendwie auch die Energie, ein Rückgriff auf die Vorkriegsavantgarde, als gäbe es da noch etwas Unaufgelöstes, einen hastigen Nachtrag zur Moderne.

Mit Max Frisch, der im gleichen Haus wohnte, verstand Galli sich nicht so gut

In jenen Jahren war die Bundesrepublik grau und neurotisch. Nach 1968 blieb noch ein bisschen Aufbruchsstimmung, bald überschattet von der Paranoia des Deutschen Herbsts. Westberlin war noch grauer und gleich neben dem Eisernen Vorhang noch ein bisschen paranoider, aber wenigstens gab es Punk und Malerei. Die Inselstadt war ein Zentrum der neuen Wildheit.

Die jungen Maler wohnten in besetzten Häusern in Kreuzberg und gingen in die Punk-Disco SO36, eine Gruppe um Rainer Fetting und Helmut Middendorf nannte sich Moritzboys, nach dem Moritzplatz. Galli war aber woanders, sie lebt in Friedenau, einem bürgerlichen, grünen Bezirk im Süden von Berlin, im gleichen Haus wie Max Frisch, mit dem sie sich nicht so gut verstand. In der Nachbarschaft lebten auch Herta Müller und Oskar Pastior, mit dem sie ein Buch machte.

Der Dichter lieferte Anagrammgedichte, Galli die Bilder. Noch immer ist ihr Studio in der Dreizimmerwohnung, deren Boden in einem Raum mit Kartonage abgeklebt ist, und erst allmählich, so erzählt mir ihre Studiomanagerin Annabell Burger, werden die Schubladen geöffnet und alles wird katalogisiert. Man läge ganz falsch, wenn man Galli als Randfigur der männerdominierten Neuen Wilden sieht, die in Kreuzberg an ihrer eigenen Überhöhung arbeiteten, denn Galli war im Zentrum ihres eigenen Netzwerks. Lyrik und Alltagssprache, ihre Salons und Partys verweben sich zu einem ganz eigenen Werk.

Die 11. Berlin Biennale zeigte 2020 Galli. Dann überschlugen sich die Ereignisse

Später, ab den 90ern, lehrte sie in Münster Malerei. Sie soll eine strenge Lehrerin gewesen sein: „Ich habe erwartet, dass die Studenten arbeiten. Ob jemand Talent hat oder nicht, mag ich nicht beurteilen“, sagte sie. Dann, 2016, erlitt sie einen Schlaganfall. Danach wurde alles schwieriger, sie war halbseitig gelähmt und ihr Sprachzentrum war betroffen, aber Galli zeichnete trotzdem jeden Tag weiter, bis sie mit links genauso gut zeichnen konnte wie einst mit rechts. Vier Jahre nach ihrem Schlaganfall wurde eines ihrer Bilder – Turbasky von 1987 – für die 11. Berlin Biennale ausgewählt.

Die Großausstellung brachte Kunst aus Lateinamerika nach Berlin und wollte das ganz Lokale mit postkolonialen Diskursen verknüpfen, die Ränder ins Zentrum holen. Und wie nebenbei bekam Galli ein neues Publikum. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Die Kunsthistorikerin Daniela Brunand zeigte Galli in ihrer Galerie. Es folgte 2024 eine große Schau im Berliner Palais Populaire, der Kunsthalle der Deutschen Bank, eine im Frühjahr dieses Jahres im Goldsmiths CCA in London, der Titel So So So, das Motto ein Zitat von Galli: „Der Körper als Schlachtfeld, das trifft jeden.“

Mittlerweile ist Brunand Direktorin bei Kraupa-Tuskany Zeidler. Die Berliner Galerie – die inzwischen nach München expandiert ist – vertritt gemeinsam mit Brunand die Malerin. „Bei Galli versuchen wir, nicht so sehr zu kuratieren“, sagt mir die Direktorin am Telefon, einige Tage nachdem die Galli-Schau Munich III in München eröffnet hat. „Wir arbeiten mit dem, was sie uns gibt, und manche Sachen behält sie für sich.“ Zwei Acrylgemälde aus der Ausstellung sind nur an Kunstinstitutionen, nicht an private Sammler verkäuflich, denn es gibt nicht so viele große Formate von Galli.

Darunter ist das Gemälde Wer das Gelbe nicht ehrt aus den 80ern, eine anatomisch unmögliche, seltsam sinnliche elefantenfarbene Figur vor einem knallgelben Hintergrund. „Das ist aber eine gemischte Strategie, denn man kann nicht nur an Institutionen verkaufen“, sagt Brunand weiter. „Private Sammler*innen setzen den Preis, Institutionen sorgen für das symbolische Kapital.“

Gallis Kunst wirkt neben der Post-Internet-Art heute verjüngend

Was erhofft sich die Galerie von dieser neuen Position, fragten viele Ende 2024, als die Malerin in einer Gruppenschau in Berlin zu sehen war. Kraupa-Tuskany Zeidler wurde berühmt mit Künstler*innen der Post-Internet-Generation, dort zeigte man Skulpturen, Assemblagen und Installationen, die mit beiden Beinen im Digitalen stehen. Sie waren in den 2010ern radikal gegenwärtig, aber jetzt scheint es so, als würde Galli das Programm verjüngen. „Unsere jüngeren Künstler*innen bewundern Galli“, sagt Brunand. „Sie identifiziert sich nicht als Feministin und gibt nicht viel auf Identität. Aber die Arbeiten selbst sprechen die queere Community an.“ Gallis Gemälde sind bevölkert von Wesen und Personen, deren Geschlecht nicht definiert ist. „Da klingen sehr gegenwärtige Diskussionen über Gender und Identität in der Kunstwelt an.“

Gallis Produktivität ist ungebrochen. „Tagtäglich eine nixnutzige Zeichnung machen, damit anfangen, wenigstens kritzeln“, schreibt sie 2011 in einer ihrer eloquenten Notizen. Sie zeichnet immer noch jeden Tag auf kleinen Indexkarten. Auf einer davon steht „Pazienza“, Geduld, und sie gibt der Ausstellung bei Grotto ihren Titel.