Gedichtband von Nico Bleutge: Im Schlaf ähneln sich alle
Im Schlaf ähneln sich alle – Seite 1
Im Jahr 2006 erschien klare konturen, das Lyrikdebüt von Nico Bleutge. „nachmittag, wechselnde sicht“ lautete die Überschrift des allerersten Gedichts. Damit war schon ein Programm formuliert, das der 1972 in München geborene, heute in Berlin lebende Lyriker, Essayist und Kritiker seitdem konsequent fortführt: das Programm einer wechselnden Sicht, das Fragen nach sich zieht: Was sieht man auf welche Weise? Wie und woran erinnert man sich? Wie bedingen sich Gegenwart und Erinnerung? Und wie lässt sich das in Sprache übersetzen?
Auch den schlafbaum-variationen, Bleutges neuem Gedichtband, liegt dieses Programm zugrunde.
Bleutges Gedichte wirken wie ein Flussbett, das von Bildern aus unterschiedlichen Zeiten durchströmt wird. Diese Bilder können sich überlagern und jedes im Außen verortbare, im Moment wahrgenommene Objekt oder Phänomen könnte auch ein inneres, erinnertes sein oder sich in eines verwandeln. Dadurch entsteht eine produktive Verunsicherung, ein Eindruck des Gleitens. Das klingt kompliziert? Konkreter wird es beim Blick auf die erste Strophe eines Gedichts des Bandes:
„von einem fenster
aus, plötzlich steht es / offen, durch einen strauch hindurch die sterne / wie
sie verschwinden, mit einem schnellen / wischen. vielleicht wie immer ohne
geräusch / tauchen falter auf, deren flügel leuchten / ameisenklein von der
brechung des lichts / in ihren röhren beginnt luft zu knistern / vielleicht
sind es gar keine sterne, was / hinter den zweigen vorbeiwischt / vielleicht
sind es kerzen, die plötzlich um-/fallen. in richtung
campo verano wehen / vielleicht sind es flocken, die ein eiswind / quer durch
den garten fegt / vielleicht sind es spinnfäden oder / taschenlampen, die durch
die zweige gehen / vielleicht sind es vögel, stare womöglich / mit einem
lichtpunkt im schnabel / der langsam nach innen hin wächst, ein schatten von
schatten, ein winziger elektrischer blitz?“
Der Blick aus einem
nächtlichen Fenster in Rom, das man an der Erwähnung des Campo Veranos, des
römischen Hauptfriedhofs, identifizieren kann, erfasst etwas, das sich bewegt,
sich gegen die Dunkelheit abzeichnet: Was ist es? Sind es nach schnell
verschwebenden Eindrücken am Ende tatsächlich Vögel, genauer gesagt: Stare? Sie
sind jedenfalls zentral im dritten Zyklus, der von der Beobachtung von Starenkolonien
in städtischen Bäumen Roms ausgeht, die durch Falken vertrieben werden sollen.
In den zitierten Versen meint man die Anmut der Stare zu
spüren, vielleicht auch ihre Bedrohtheit. Das Gedicht auch als Todesgedicht zu lesen liegt
durch Friedhof, umfallende Kerzen, Flocken im Eiswind zwar nahe, doch gesagt
wird das nicht. Und auch die zweite Strophe bleibt vieldeutig, obwohl sich die
Anzeichen für diese Deutung weiter verdichten.
„Was siehst du?“,
fragt ein anderes Gedicht, fragen die Verse in diesem Band untergründig unentwegt.
Manchmal wirken sie, wie mehrfach belichtete Fotografien wirken oder wie ein Rorschachbild.
Das Gedicht besuche im klinikum steigert das Vexierende der Wahrnehmung.
Es überblendet in mehreren Strophen Bilder von Besuchen bei einem Sterbenden
oder Toten: „das ist der mann / der liegt in der klinik in Regensburg“ mit den
Bildern eines „jungen mit cowboyhut / der in der dampflok sitzt“.
Die Beschreibung
des Mannes stößt regelrecht zusammen mit Bildern des Jungen, die aus einem
Super-8-Film stammen könnten, denn das Gedicht spricht von einem „projektor,
der den film abspult“. Je weiter es voranschreitet, umso deutlicher stellen
sich auch hier Fragen: Was sieht man? Wer schaut auf wen? Hat der Verstorbene,
der vielleicht der Vater des Sprechenden ist, einst den Sohn gefilmt, der sich
nun im Blick auf einen Toten an den eben noch lebenden Vater erinnert und nun diese
verschiedenen Ebenen der Erinnerung in Verse fasst? Während der eine aus der
Welt getreten ist, hält der andere ihn mittels seiner Verse für einen Moment
zurück, so wie der Vater den Jungen einstmals auf dem lichtempfindlichen
Filmmaterial in einem längst vergangenen Lebenszeitraum ebenfalls in
einem Moment festzuhalten versucht hat. Am Ende des Gedichts steht alles
still: „ob jetzt die lok noch fährt / sich der projektor dreht / durch fluß und
wald hindurch / wo nun kein film mehr läuft“.
Die Hintergrundstimmen
Der Schlaf- oder
Seidenbaum, der so heißt, weil er nachts die Blätter einrollt, also seine
Gestalt in Abhängigkeit von den Lichtverhältnissen ändert, ist nicht nur eine
hervorragende Wappenpflanze für den so sensibel auf wechselnde Licht- und
Sichtverhältnisse reagierenden Bleutge. Er steht auch symbolisch für die im
Band verhandelte Verbindung von Hypnos und Thanatos, Traum und Tod, die
bekanntlich Brüder sind. So intensiv wie in den schlafbaum-variationen war Bleutges
Dichtung noch nie mit dem Hinaustreten aus der Welt, so intensiv noch nie mit Eintreten
in sie befasst. Beide Lebensphasen ähneln einander: die Phase der Assimilation des
Kindes an die Sprache und die des Verlusts von Sprach- und Erinnerungsfähigkeit,
wie er im Alter oft auftritt.
Im Schlaf aber ähneln
sich nicht nur Kinder und Alte, sondern alle. Es schwindet das Bewusstsein von der
eigenen Endlichkeit. Auch Vater und Sohn aus besuche im klinikum werden im Gedicht
ewig wie die Stare, die in den schlafbaum-variationen von den Falken bedroht
werden.
Weitere zahlreiche Tiere,
vom Löwen über die Fledermaus, vom Hasen bis zur Giraffe, sogar der brennenden Giraffe
aus dem Gemälde von Salvador Dalí, erscheinen in diesen Gedichten auf völlig
unkitschige Art. Sie sind hier oft klügere, dem Menschen überlegene Wesen, den
Tieren aus dem konjunkturellen nature writing weniger verwandt als mythischen
Tieren der Antike oder der Fabel.
Auf für Bleutge-Leser
vertraute Weise klug wie eh und je geht der Band auch mit dem um, was der
Autor „Hintergrundstimmen“ nennt: Es sind intensiv gelesene Texte, die nicht
immer in den Gedichten zitiert werden und dennoch entscheidend für ihr
Entstehen waren und in den Anmerkungen genannt werden. Sie reichen diesmal von
Versen Ovids bis zu Terézia Mora, von Friedrich Hölderlin bis zu Astrid
Lindgrens Tomte Tummetott, eine Adaption des schwedischen Gedichts von Viktor
Rydberg über den Wichtel (Tomte), der Menschen und Tiere bewacht, während sie
schlafen. Auch mit dem Zyklus „funken“, dem Lindgrens Hüterwesen zugrunde
liegt, schließt sich ein Kreis zum Titel.
Einmal mehr zeigt
sich Nico Bleutge auch als hervorragender Handwerker, der von der als
abgegriffen verschrienen Alliteration bis zum dezent eingesetzten (Binnen-)Reim
rhetorische Figuren so leicht und mühelos einzusetzen weiß, dass man sie
beinahe überliest. Im Einstiegsgedicht über ein gebadetes Kind wirken diese Mittel so bezwingend, dass man es fast körperlich
nachempfindet: „dies nagen, ineinanderdrehen /
von wolken, beginn: nicht eine / silbe zum stehen, stauchen / alles drin.
gedrippelt und gedoppelt / stoppelnder sinn. schon fönt es / die brust, wenn
die plitschernde nahe / kommt, quappig, gebadet, wohin / wohin“.
Das Gedicht eröffnet
den ersten von insgesamt sieben Zyklen. Er heißt anfangen, wieder und
beschäftigt sich mit elementaren Tätigkeiten wie Baden, Essen, Sehen, die ein
Kind lernen und begreifen muss. Bleutge
schreibt eben nicht: „wieder anfangen“, sondern „anfangen, wieder“ – ein zwar winziger,
aber gewichtiger Unterschied, der die Unmöglichkeit einer totalen
Verlebendigung vergangener Erfahrung weiß und dennoch versucht, Unwiederbringliches
noch einmal im Blick auf ein anderes Wesen heranzuholen. In den schlafbaum-variationen, denen selbst ein solches „anfangen, wieder“
vorausgegangen sein muss, gewinnt auch die sicherlich vielen vertrauten Sehnsucht,
Vergangenes noch einmal als neu zu erfahren, sprachliche Gestalt von spannungsreicher,
eindrücklicher Schönheit.