Fresenius-Chef Michael Sen im Interview zur Situation in Kliniken
Wo steht denn unsere Krankenhausversorgung auf einer Skala von null bis zehn, wenn zehn perfekt wäre?
Wir haben in Deutschland verschiedene Träger und große Qualitätsunterschiede bei den Kliniken. Wenn ich auf die schwächsten Glieder der Kette schaue, würde ich provokativ sagen: Wir sind bei einer drei.
Wo kämen wir mit einer Reform hin, wie Sie sie gerade skizziert haben?
Wir müssen zusätzlich die Qualität unserer Leistungen sichtbar machen und den Riesenhebel nutzen, den Digitalisierung und Künstliche Intelligenz bieten. Wenn wir das alles zusammennähmen und Gesundheitsversorgung wieder als einen attraktiven Wirtschaftszweig sähen, dann, glaube ich, könnte man in Deutschland insgesamt mindestens in Richtung einer Bewertung von sieben kommen. Und wenn klinische Daten in Deutschland und in Europa endlich eine wichtige Rolle spielen, dann können wir sogar über eine Bewertung von sieben hinauskommen.
Aber sind längere Fahrwege einer stark alternden Gesellschaft überhaupt zuzumuten?
Es geht doch vor allem um eine viel engere Verzahnung von Gesundheitsleistungen, von ambulanter Behandlung und stationärer Behandlung. Damit können Sie das System wieder sehr viel effizienter machen. Ein Beispiel: Für eine einfache Knieoperation braucht man nach heutigem Stand der Kunst keine Krankenhausübernachtung. Das ist in Deutschland aber häufig der Fall. In Spanien dagegen haben wir ein viel, viel größeres ambulantes Netzwerk, und es gibt viel weniger Übernachtungen nach Knieoperationen. Es geht darum, die Bevölkerung mit Blick auf Gesundheitsleistungen besser zu steuern, und das werden wir künftig verstärkt tun.
Lauterbachs Reformen treffen Helios also kaum, anders als zum Beispiel kommunale Klinikträger.
Wir sind und werden auch betroffen sein, aber positiv. Wir sagen, das trifft genau unseren Ansatz, wie wir uns aufstellen wollen. Nach unserem Clusterkonzept überlegen wir, welche Flecken auf der Landkarte wir besetzen, wo wir eine Vollversorgung haben. Die Lauterbach-Reform fordert also vieles, was wir schon machen. Wir glauben, dass wir netto sogar gewinnen können. Und das kommt letztlich in Form einer höheren Behandlungsqualität auch unseren Patienten zugute.
Also kommen letztlich auch mehr Patienten zu Ihnen?
Wenn wir das weiter optimieren, werden wir noch mehr Patienten anziehen können. Und damit kommen wir auf unsere Umsatzzahlen und ein Wachstum zwischen vier und sechs Prozent bei Helios.
Helios hat in Deutschland mehr als 80 Kliniken mit 30.000 Betten, Ihr Ableger Quirónsalud in Spanien 50 Häuser mit nur etwas mehr als 7000 Betten. Liegt nicht hier der Hase im Pfeffer?
Letztlich geht es nicht um die Zahl der Betten, sondern um deren Auslastung. Wir brauchen die Betten für Patienten mit anspruchsvollen Behandlungen.
Das heißt, keine Knie-OPs mehr, nur noch die schlimmen Fälle kommen ins Krankenhaus?
Ja, die schlimmen Fälle kommen ins Krankenhaus, aber in unser Netz, das vom hoch spezialisierten Vollversorger bis zum Medizinischen Versorgungszentrum reicht, kommen alle.
Was lernen Sie von Spanien?
In Spanien gibt es eine Grundversorgung, und dann wird privat versichert. Also stehen Sie, wenn Sie so wollen, im Wettbewerb, Patienten zu sich zu ziehen. Und damit steht in Spanien der Patient auch mit seiner Patientenzufriedenheit im Mittelpunkt. Der Patient ist im Gesundheitswesen zufrieden, wenn die klinische Leistung passt und wenn das Drumherum passt. Es gibt einen Wettbewerb um die besten Ärzte und einen Zug zu mehr Innovationen. Wir haben vor einiger Zeit eine unserer Quirónsalud-Kliniken in Barcelona besucht . . .
. . . mit welcher Erkenntnis?
Da denken Sie, Sie sind im Vier-Sterne-Hotel. Sie können sich automatisch mit einem Termin einloggen, wie am Flughafen. Für die Anamnese, also die Aufnahme der Patientengeschichte, kommen Sie in ein Zimmer mit Sofa, das wie ein Apple-Store eingerichtet ist. Entweder ist direkt ein Arzt dabei, oder er wird über einen Monitor dazugeschaltet.
Das klingt nach gewaltigen Investitionen. Bekommen wir das in unserem Gesundheitssystem halbwegs abgebildet, oder ist das Menschen, die sich so was leisten können, vorbehalten?
Was ist da jetzt teuer dran? Provokant könnte man sagen: Ein schönes Sofa bekommt man von Ikea und einen Bildschirm aus dem Media-Markt. Wichtiger aber ist doch die digitale Plattform, die wir dort haben, namens Casiopea. Von der bin ich sehr begeistert. Über Casiopea haben Ärzte und Patienten Zugriff auf alle für sie relevanten klinischen Daten. Die Plattform ermöglicht auch eine bessere Steuerung der Patienten- und Behandlungspfade. Eigentlich ist Casiopea eine Art offenes Ökosystem, über mehrere Jahre von Ärzten für Ärzte entwickelt. Zu Casiopea gehört auch eine App, in der mehr als sechs Millionen Nutzer registriert sind, also jeder achte Einwohner Spaniens.
Was genau finden Sie daran so toll?
Nehmen Sie zum Beispiel die Anamnese, da testen wir in Spanien derzeit eine neue Applikation. Sie führen mit dem Arzt ein Gespräch in einer angenehmen Atmosphäre. Die Dokumentation des Gesprächs erstellen wir danach über Spracherkennung und ein Large Language Model, also über KI. Der Arzt kann sich also während des Gesprächs voll auf den Patienten konzentrieren.
Übertragen Sie den Ansatz auf Deutschland?
Wir haben in Leipzig gerade ein Pilotprojekt laufen. Da geht es um Arztbriefe, deren Erstellung dauert im Schnitt rund drei Stunden am Tag. Es gibt Krankenhäuser, da wird nach alter Väter Sitte noch diktiert. Die Hälfte der Fachtermini ist nicht lesbar oder unverständlich. Dann geht’s zum Assistenzarzt, der sich das anschaut. Dann geht es wieder zurück, und ganz zum Schluss gibt der Chefarzt den Brief frei.
Wie läuft Ihr Projekt ab?
Wir testen hier ein Modell, bei dem wir mithilfe eines LLM eine Applikation für den Arztbrief, also den Entlassbrief für Patienten, entwickelt haben. Den gibt es in zwei Versionen, eine mit Fachtermini für den Arzt und eine leicht verständliche für den Patienten. Die spannende Frage wird jetzt sein: Lässt sich das skalieren, also in großem Maßstab anwenden? Es handelt sich übrigens nicht um eine standardisierte KI wie ChatGPT. Vielmehr ist es eine sehr spezifische medizinische Anwendung. Und da kommt genau unsere Fachkenntnis rein. Das kann kein Big Tech. Am Ende reduzieren wir die administrative Zeit des Arztes so, dass er mehr Patientenzeit und damit Behandlungszeit bekommt.
Was erhoffen Sie sich davon konkret an Einsparung?
Vielleicht dauert die Bürokratie künftig nur noch 20 Minuten und keine drei Stunden mehr, je besser unsere Modelle werden. Darum ist es auch wichtig, eine große Krankenhauskette zu haben. Mit Quirónsalud zusammen behandeln wir über 26 Millionen Patienten im Jahr. Dieser Datenschatz ist unglaublich. Jetzt stellen Sie sich vor, wir würden hier im Netzwerk zusammenarbeiten, um klinisches Wissen auszutauschen und zu validieren. Zum Beispiel verfügen wir bei Helios in Deutschland über eine Datenbank namens HeSaMeDa, also Helios Safe Medical Data. Da können wir die Daten der Patienten – mit deren Zustimmung – für unsere eigene Qualitätsüberprüfung, für Sicherheitsthemen und klinische Forschung nutzen. Das Ziel von Helios bis 2026 ist, alle klinischen Entscheidungen datengestützt zu treffen.
Gegen wie viele geltende Datenschutzbestimmungen haben Sie gerade mit Ihren Gedankenspielen verstoßen?
Das ist genau der Punkt, und da werde ich leidenschaftlich: Wie kriegen wir das hin? Denn Gesundheit hilft erst einmal jedem, und wir wollen die bestmögliche Gesundheitsversorgung für alle. Leider gilt in Europa der Grundsatz: Erst Regulieren, dann kommen vielleicht danach die Innovationen. Das halte ich für kreuzgefährlich. Auch der EU AI Act, der Künstliche Intelligenz regeln soll, ist nicht besonders innovationsfreundlich. Wir müssen in Deutschland und Europa insgesamt schneller und pragmatischer mit Blick auf die Regulatorik werden. Datensicherheit darf nicht gegen medizinischen Fortschritt ausgespielt werden.
Im Ergebnis haben wir heute ein neues, stärkeres Fresenius. Wir haben durch sehr, sehr harte Arbeit Vertrauen zurückgewonnen. Damit sind die großen Aufräumarbeiten in der Tat abgeschlossen. Der Gesundheitsmarkt ist ein hochattraktiver Wachstumsmarkt. Wenn wir relevant sind, dann können wir davon profitieren. Damals konnten wir das nicht. Es gab ja mal die Analogie, der Patient befinde sich auf der Intensivstation. Da sind wir raus.
Dabei haben Sie den Konzern quasi halbiert, von vier auf zwei Bereiche, den Vorstand umbesetzt, sodass einige Altgediente schon die Fresenius-Kultur verloren sahen.
Sie kennen vielleicht die frühere Fernsehserie „Das A-Team“. Also erst einmal haben wir ein A-Team mit unserer Mannschaft. Und der A-Team-Chef Hannibal Smith hat immer gesagt: „Ich liebe es, wenn ein Plan aufgeht.“ Und das haben wir hier so gemacht. Unser Plan „Future Fresenius“ ist aufgegangen. Der Umbau ist abgeschlossen, und jetzt sind wir neu aufgestellt, wirtschaftlich stärker, innovativer und vorwärtsgewandt.
Was sagen die Mitarbeiter dazu?
In diesen Tagen endet die dritte Mitarbeiterbefragung. In einer ersten vor zwei Jahren waren die Reaktionen grottig, die im vergangenen Jahr waren schon besser. In diesem Jahr sehen wir, dass allein in den ersten Tagen die Teilnehmerquote deutlich gestiegen ist. Wir fühlen innerhalb des Unternehmens, dass wir richtig Schwung haben, und wir schauen nach vorne. Wir haben jetzt eine definierte Strategie, und wir setzen auf Innovation.
Wie ist die Reaktion aktivistischer Investoren? Die hatten Fresenius zu Ihrem Start ja im Visier.
Wir sind mit allen interessierten und potentiellen Investoren im Austausch. Ich habe das ja von Anfang an gesagt: Wenn einer mit uns reden will, dann sind wir zu Gesprächen jederzeit bereit. Aber inzwischen sehen die Investoren: Wir sind stärker, wir sind vitaler. Vorher haben wir auch in einer guten Liga mitgespielt, aber jetzt wollen wir in die Champions League. Wir sind auf einem guten Weg dahin.
Fresenius besteht nach dem Verkauf der Dienstleistungssparte Vamed und der Entflechtung des Dialysekonzerns FMC nur noch aus der Medizinsparte Kabi und der Klinikkette Helios. Zwei Bereiche, die eigentlich keine großen Synergievorteile zum Beispiel in Form von Kostenvorteilen oder Ressourcenauslastung versprechen. Wie rechnet sich das?
Unsere Strategie orientierte sich an der Frage: Welche Geschäfte sind in attraktiven Märkten unterwegs, haben sie Wachstumspotential, hohe Eintrittsbarrieren, attraktive Profitpools, und sind sie auch medizinisch relevant? Also Geschäfte, die die Patientenreise in irgendeiner Form berühren. 75 bis 80 Prozent der Patientenreise ist Therapie. Mit den lebens- und überlebenswichtigen Medikamenten von Kabi kommen etwa 450 Millionen Patienten im Jahr in Berührung. Neuentwicklungen können wir immer gleich im klinischen Betrieb testen beziehungsweise entwickeln. Das gab es so früher bei Fresenius nicht. Deswegen haben wir gesagt, wir greifen zum Äußersten – wir reden miteinander. Bei Fresenius ist heute der Austausch zwischen den Geschäften intensiv, und das kommt dem ganzen Unternehmen zugute.
Nennen Sie mal ein Beispiel.
Die klinische Ernährung bekommt immer mehr Evidenz. Klinische Studien zeigen, dass die Ernährung im Verlauf einer Krankheit eine Rolle spielt, beispielsweise in der Onkologie. Dennoch sind viele Patienten im Krankenhaus eigentlich fehl- oder mangelernährt.
Was bedeutet das?
Zum Beispiel sind Kinder keine kleinen Erwachsenen. Man muss die Formel für klinische Ernährung anpassen, also Kalorien, Spurenelemente und so weiter. Mit unserem neuen klinischen Ernährungsleiter haben wir neulich über Innovationen in diesem Bereich gesprochen. Ich habe jetzt zudem einen Innovationsfonds eingerichtet, mit dem Ziel, kleine Pflänzchen und Ideen zu schützen, die sonst dem Budgetprozess zum Opfer fallen, wenn sie in vier Jahren nichts einbringen.
Das läuft über Sie direkt?
Genau. In unserem Innovationsrat sitzen Topleute von Kabi und von Helios. Wir haben vor Kurzem einen Chief Medical Officer benannt, ich stehe dem Ganzen vor als einziger Nichtmediziner. Und mit dem Fonds geben wir intern eine Anschubfinanzierung. Bislang haben wir zwei Projekte qualifizieren lassen. Da wird aber noch viel mehr kommen.
Lassen Sie uns auf den Aktienkurs schauen: Der hat sich einerseits seit Ihrem Amtsantritt um mehr als 50 Prozent verteuert. Andererseits ist er von seinem Allzeithoch noch weit entfernt. Wie viel Musik steckt noch drin?
Wenn ich frech wäre, würde ich sagen: Früher war mehr Lametta. Ein Wert wird geschaffen, indem man nach vorne schaut und Zukunftsthemen besetzt. Worum geht es jetzt? Wir müssen Felder besetzen, die relevant sind, die klinischen Nutzen bringen, die Patienten zugutekommen, die attraktiv sind. Und genau daran haben wir unsere Portfoliopolitik ausgerichtet.
Übernahmen spielen im Gegensatz zu früher gar keine Rolle mehr?
Das würde ich so absolut nicht sagen. Wir können aber mit unserem jetzigen Portfolio organisch sehr gut wachsen – das heißt ohne hohen Kapitaleinsatz. Weil wir gleichzeitig entschulden. Fresenius hat lange nicht diese organischen Wachstumsraten im Umsatz gesehen wie in den letzten eineinhalb Jahren, fast zwei Jahren. Zuletzt fast zweistellig. Ich bin sehr stolz auf dieses Umsatzwachstum. Und das alles trotz des Hochinflationsumfelds, gestiegener Zinsen und enorm hoher Schulden, mit denen wir vor zwei Jahren gestartet sind.
Der Mann für klare Verhältnisse
Seit genau zwei Jahren steht Michael Sen an der Spitze des Gesundheitskonzerns Fresenius . Der 56 Jahre alte Manager mit indischen Wurzeln und rheinischem Akzent, geboren in Korschenbroich, löste damals seinen Vorgänger Stephan Sturm ab. Dieser hatte an den Finanzmärkten keinen guten Stand, was sich in fünf Jahren in einem enttäuschenden Aktienkurs niederschlug.
Sen verbrachte die längste Zeit seiner Karriere im Siemens-Konzern, unterbrochen lediglich von einem kurzen Intermezzo im Energieunternehmen Eon. Er gilt als Restrukturierungsprofi. Entsprechend radikal setzte der gelernte Industriekaufmann und studierte Betriebswirt unter dem Motto „Reset“ eine Strategie durch, die Sturm schon angedacht hatte: den in seiner Struktur komplexen Stiftungskonzern zu vereinfachen. Heute besteht Fresenius nur noch aus zwei Sparten – nämlich Kabi (Medikamente) und Helios (Krankenhäuser) – statt der damaligen vier. Die auf Dialyse spezialisierte Tochtergesellschaft Fresenius Medical Care, damals ebenfalls im Dax und heute im Mittelwertesegment M-Dax notiert, trägt zwar noch die Bezeichnung Fresenius im Namen, wurde aber dekonsolidiert, also von der Muttergesellschaft entflochten.
Seit Sens Amtsantritt ist der Kurs der Dax-Aktie um rund die Hälfte gestiegen. Ihr Wert ist aber noch immer weit entfernt von den Höchstständen des Jahres 2017.