Frantz Fanon schreibt 1961 „Die Verdammten dieser Erde“: Muskelträume
Im Pariser Verlag Maspero erscheint Anfang der 1960er Jahre ein Buch, mit dem das Verständnis für die Dynamik zwischen Gewalt und Gegengewalt in Kolonialkonflikten schlagartig erweitert wird. Es heißt Die Verdammten dieser Erde. Autor ist Frantz Fanon, ein von der französischen Karibikinsel Martinique stammender Schwarzer Psychiater. Seinen Erkenntnissen liegen Berufserfahrungen zugrunde, die er während des zwischen 1954 und 1962 tobenden algerischen Unabhängigkeitskrieges sammelte. Sowohl die Kolonialmacht Frankreich als auch die Kolonisierten führten ihn mit gnadenloser Härte. Fanon analysierte nicht nur die vordergründige physische Gewalt des Schlagabtauschs, was zu parteiisch moralisierenden Urteilen führen kann, die alles andere als hilfreich sind, um die Dynamik der Gewalt aufzuhalten. Vielmehr beschäftigte den Buchautor auch jene strukturelle und psychische Gewalt, die den physischen Gewaltereignissen vorausgeht.
In Algerien waren bis zur Unabhängigkeit 1962 die größten und fruchtbarsten Ackerflächen das Eigentum von Franzosen. Allerdings sorgte nicht nur das für erhebliche soziale Unterschiede. Muslimen waren auch die Vorteile des Laizismus verwehrt. Um die vollen Bürgerrechte zu erlangen, mussten sie ihre Religion aufgeben. Dies taten nur wenige, auch wenn ihnen eine staatliche Schulbildung dadurch versagt blieb. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg durften Schulen zehn Prozent Muslime aufnehmen. Es interessierte nicht, dass sie 90 Prozent der Bevölkerung stellten. Diese strukturelle Gewalt zog Nachteile bei Ausbildung und Arbeit, beim Wohnen, bei Ernährung und Gesundheit oder der politischen Teilhabe nach sich. Da sich an dieser Situation nichts ändern ließ, sei der antikoloniale Kampf der Algerier, so Fanon, ein „Zusammentreffen zweier von Geburt an antagonistischer Kräfte und immer ein Phänomen der Gewalt gewesen. Was sie erstrebten, das war ein struktureller und institutioneller Wandel, der auf den eigenen Staat zielte.“
Gab es zur Gewalt keine Alternative? Tatsächlich erlangten andere Kolonien Frankreichs in Afrika die Souveränität mit wesentlich weniger physischer Härte. Freilich waren die Interessen der Kolonialmacht in Algerien entschieden gravierender als anderswo. Der Anteil angesiedelter Europäer war besonders hoch. Und die strategischen Rohstoffreserven erwiesen sich als sehr verlockend. In der Sahara lagen Testgebiete für Kernwaffen.
Da Muslime nur ein beschränktes Wahlrecht hatten, verfügten sie über keine gewaltfreien Mittel, ihre Rechte durchzusetzen. Die koloniale Welt, so Fanon, sei immer eine zweigeteilte gewesen – mit „Eingeborenen- und Europäer-Städten“. Die Trennungslinie sei durch Grenzen, Kasernen und Polizeiposten markiert worden. Fanon schrieb: „Der rechtmäßige und institutionelle Gesprächspartner des Kolonisierten, der Wortführer des Kolonialherrn und des Unterdrückungsregimes, ist der Gendarm oder der Soldat.“ Es gebe keine demokratische Kultur der Kommunikation, der „Kontakt“ werde „mit Gewehrkolbenschlägen und Napalmbomben“ gepflegt. Der Agent der kolonialen Ordnungsmacht benutze „die Sprache der reinen Gewalt“. Er erleichtere nicht die Unterdrückung und verschleiere nicht die Herrschaft. „Er stellt sie zur Schau, er manifestiert sie mit dem guten Gewissen der Ordnungskräfte.“
Als Psychiater konstatiert Fanon: „Der Agent trägt die Gewalt in die Häuser und in die Gehirne der Kolonisierten.“ Denn der Algerier wisse, dass er nicht das „Tier“ sei, auf das ihn die Haltung und der Diskurs des Kolonialherrn reduzierten. „Und genau zu derselben Zeit, da er seine Menschlichkeit entdeckt, beginnt er seine Waffen zu reinigen, um diese Menschlichkeit triumphieren zu lassen.“ – So beschreibt Fanon die psychosomatische Genese von Gewaltbereitschaft des Kolonisierten. Er werde in unfruchtbare Gebiete vertrieben, das zerstöre den sozialen Raum und löse bei den Kolonisierten ein permanentes Gefühl von Scham aus. Werde auch noch verlangt, sich auf „europäische Werte“ einzulassen, erfasse die Betroffenen „eine Art Anspannung, ein Starrkrampf der Muskeln“. Es könne geschehen, „dass der Kolonisierte, wenn er eine Rede über die westliche Kultur hört, seine Machete zieht“. Für ihn „wirkt die Gewalt entgiftend“. Sie befreie ihn „von seinem Minderwertigkeitskomplex, von seinen kontemplativen und verzweifelten Haltungen“. Weil er nicht Herr seines Raums und seiner Bewegungen sei, sondern dort zu sein habe, wo ihn der Kolonialherr haben wolle, „sind seine Träume Muskelträume, Aktionsträume, aggressive Träume. Ich träumte, dass ich springe, dass ich schwimme, dass ich renne, dass ich klettere. Ich träume, dass ich vor Lachen berste, dass ich den Fluss überspringe, dass ich von Autorudeln verfolgt werde, die mich niemals einholen.“
Die Folter überstehen
Diese „in seinen Muskeln sitzende Aggressivität wird der Kolonisierte zunächst gegen seinesgleichen richten“. Sie führe zu blutigen Explosionen wie Stammesfehden oder Schlägereien. In dieser Inkubationszeit nähmen Okkultismus und Magie zu. Es könne zu ekstatischen Tänzen kommen, die an Besessenheit grenzen. „Der Kolonisierte entspannt sich in diesen Muskelorgien, die seine schärfste Aggressivität und seine unmittelbarste Gewalttätigkeit kanalisieren, verwandeln und ableiten.“ Alles scheine erlaubt, „um die angestaute Libido, die verhinderte Aggressivität vulkanisch ausbrechen zu lassen. Symbolische Tötungen, bildliche Ritte, vielfältige eingebildete Morde … Die bösen Säfte ergießen sich, donnernd wie Lavamassen.“
Und sie würden sich gegen die Kolonialmacht richten. Fanon gibt erschreckende Patientenprotokolle wieder. „Zwei algerische Jungen von 13 und 14 Jahren ermorden ihren europäischen Spielkameraden“, ohne mit ihm in Streit geraten zu sein. Als einzige Erklärung bringen sie vor, dass auch die Franzosen Algerier ohne Begründung töten würden. Da sie noch zu klein für den bewaffneten Kampf seien, hätten sie sich zur Tötung des Spielkameraden entschlossen. „Aber warum gerade ihn?“ – „Weil er mit uns spielte. Ein anderer wäre nicht mit uns dort raufgegangen.“
Das wohl gewichtigste Argument, das man bei Fanon für die Unhaltbarkeit der kolonialen Situation findet, sind die psychischen Probleme, von denen die „Agenten der Macht“ selbst befallen werden. Als Psychiater behandelte er die Leiden französischer Folteroffiziere, die ihr Gewaltverhalten in der eigenen Familie nicht mehr kontrollieren konnten.
Lange dauere es, bis sich – notgedrungen im Untergrund – eine organisierte Kraft forme, die jene anarchisch entfesselten Energien politisch organisieren könne, meint Fanon. Die Masse der Kolonisierten – analphabetische Bauern – misstraue den wenigen Intellektuellen, den Gewerkschaften, sogar den verbotenen nationalistischen Parteien, die sie für Agenten des Kolonialsystems hielten. Zur Alternative werde eine neue Organisation – eine nationale Befreiungsfront. Da diese weder über demokratische Teilhabe noch über moderne militärische Mittel verfüge, bleibe ihr nur die Waffe des Terrors.
Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre erzählte Fanon, wie weit er selbst den Kampf der Algerier unterstützte. Als leitender Klinikarzt hatte er den Partisanen Medikamente geschickt, Sanitäter ausgebildet, Kämpfer beherbergt und ihnen ein Psychotraining angeboten, „für den Moment, in dem sie eine Bombe legen oder eine Granate zu werfen hatten“. Er brachte ihnen auch bei, „welche psychologische und physische Haltung ihnen helfen konnte, die Folter zu überstehen“. Er schilderte, dass die Psyche der Unabhängigkeitskämpfer – wenn ihre Gewalt Zivilisten getroffen hat – Zweifel, Reue und schwere Störungen davontragen kann. Dabei sah Fanon Gewalt nur als allerletztes Mittel, um unhaltbaren Verhältnissen zu begegnen. Seine jüdische Assistentin Alice Cherki erinnerte sich, dass er, um Gewalt zu verhindern, sogar die ärztliche Schweigepflicht brach. Eine französische Patientin hatte ihm anvertraut, dass ihr Mann, ein fanatisierter Beamter, gewaltsame Unruhen beim bevorstehenden Besuch von Frankreichs Premier Guy Mollet inszenieren wolle, um sie der algerischen Befreiungsfront FLN zuzuschreiben. Fanon gab sein Wissen über einen Mittelsmann den staatlichen Stellen preis. Die Aktionen unterblieben.
1955 schloss er sich mit einigen Assistenzärzten der algerischen Exilregierung in Tunis an, wo er für zahlreiche traumatisierte Flüchtlinge psychiatrische Einrichtungen schuf. Frantz Fanon starb Ende 1961 an Leukämie – wenige Monate vor Algeriens Unabhängigkeit Anfang Juli 1962.