Flüchtlinge: »Wir können nicht jedem helfen« – Landrat schlägt im SPIEGEL-Talk Alarm

Markus Feldenkirchen, DER SPIEGEL:
»Ja. Rund 1,3 Millionen geflüchtete Menschen sind im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen. Rund 80 Prozent sind Frauen und Kinder, die vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet sind. Sie unterzubringen, sie gar zu integrieren, stellt viele Kommunen vor große Herausforderungen, beziehungsweise überfordert sie gar. Herr Frei, wie würden Sie die Lage angesichts von 1,3 Millionen Menschen, die im letzten Jahr gekommen sind nach Deutschland, beschreiben?«
Thorsten Frei, CDU:
»Also, es ist eine Riesenherausforderung für die Kommunen, weil man muss einfach sehen, 1,3 Millionen Menschen, das sind mehr als in den Krisenjahren 2015 und 2016 zusammen. Und das bedeutet für die Kommunen, die ja für Unterbringung, Versorgung zuständig sind, dann im weiteren Verlauf auch für die Integration: Die sind wirklich in einer Situation, wo sie an Belastungsgrenzen kommen, in manchen Bereichen auch darüber hinweg sind.«
Markus Feldenkirchen, DER SPIEGEL:
»Sie können es vermutlich am besten beurteilen, zumindest was Ihren Landkreis betrifft. Wie würden Sie die Lage derzeit beschreiben?«
Jens Marco Scherf, Bündnis 90/Die Grünen:
»Ja, die Lage ist insgesamt für uns schon prekär, denn wir sind eigentlich in zwei Flüchtlingskrisen. Wir haben im vergangenen Jahr, wie von Ihnen skizziert, bei uns im Landkreis Miltenberg zum Beispiel 1600 Menschen aus der Ukraine aufgenommen und haben aber parallel dazu im Laufe des vergangenen Jahres und im Herbst ganz deutlich eine stark steigende Zahl Geflüchteter, vor allem aus Syrien, Afghanistan und einigen afrikanischen Ländern, Türkei, weshalb wir tatsächlich von der reinen Zahl her momentan an unsere Leistungsgrenzen stoßen. Unsere Unterkünfte sind knapp bei hundert Prozent belegt. Das heißt, wir haben bereits eine Notunterkunft aktiviert und müssen jede Woche ein bis zwei Häuser neu anmieten, neue dezentrale Unterkünfte einrichten. Da ist absehbar: Der Wohnungsmarkt wird es nicht mehr hergeben. Da komme ich dann einfach im Landkreis Miltenberg an die praktischen Grenzen, wo ich nicht weiß: Wie sollen wir das bewältigen? Wir können nicht jedem helfen, der in Syrien, Afghanistan, Iran, Türkei und so weiter, in diesen Ländern, der in Not ist.«
Markus Feldenkirchen, DER SPIEGEL:
»Können Sie das nachvollziehen, und müssen Sie selbstkritisch als Vertreter der Regierungskoalition sagen, dass Sie da bisher zu knauserig waren?«
Helge Lindh, SPD:
»Ich nehme das sehr ernst. Ich war 2015/16 Vorsitzender des örtlichen Integrationsausschusses in meiner Stadt Wuppertal, und wir hatten genau die Diskussion. Wir hatten die Diskussion: Wie läuft die Finanzierung? Was für einen Anteil muss der Bund tragen? Was machen die Länder? Werden die Gelder an die Länder weitergeleitet? Und so weiter und so fort.«
Markus Feldenkirchen, DER SPIEGEL:
»Da müssen Sie ja gelernt haben.«
Helge Lindh, SPD:
»Und ich sehe, dass wir gelernt haben, aber wir müssen noch weiter lernen. Also ich finde es wirklich vernünftig, wie das bei dem Flüchtlingsgipfel war, der letztens bei Frau Faeser stattgefunden hat, der explizit ja nicht um Geld ging, sondern dass man endlich mal anguckt, was muten wir vom Bund zu? Also wir gucken uns an, ist das in den Ausländerbehörden umzusetzen? Wie organisieren wir das Ganze? Was ist mit Verteilung und Wohnraum? Und da muss der Bund Defizite von vielen, vielen Jahren aufarbeiten. Länder sind aber auch gefragt. Und jetzt, im nächsten Schritt, wird es darum gehen, in der Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Kanzler auch über Finanzierung zu sprechen.«
Jens Marco Scherf, Bündnis 90/Die Grünen:
»Für mich entscheidend, wenn Sie mich nach dem anstehenden Fluchtgipfel fragen, ist, was kommt dabei raus? Es muss zum einen wirklich rauskommen, dass unsere Aufwendungen bedarfsdeckend finanziert werden, dass es viele, viele Erleichterungen, auch Veränderungen gibt, schnellere Verfahren. Die Menschen, die zu uns kommen, sollten wirklich die mit Bleibeperspektive sein, die Verfahren am besten abgeschlossen, dass wir gleich mit der Integration anfangen können. Aber es muss eben auch auf unsere Probleme vor Ort reagiert werden.«
Markus Feldenkirchen, DER SPIEGEL:
»Es gibt Erhebungen, dass rund 26 Prozent der circa eine Million Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind, in Deutschland bleiben wollen. Wäre das, wenn es so kommt, eine zu große Belastung für Deutschland?«
Thorsten Frei, CDU:
»Das kann man so pauschal tatsächlich nicht sagen. Es könnte durchaus auch eine Bereicherung für unsere Gesellschaft sein. Das kommt immer drauf an.«
Cansin Köktürk, Bündnis 90/Die Grünen:
»Da wären wir ja wieder bei dem Zweiklassensystem.«
Thorsten Frei, CDU:
»Gut, dass Sie es ansprechen, Herr Feldenkirchen, da bin ich nämlich wirklich grundsätzlich anderer Auffassung.«
Cansin Köktürk, Bündnis 90/Die Grünen: :
»Dann machen Sie ja doch Unterschiede.«
Markus Feldenkirchen, DER SPIEGEL:
»Weil die aus einem anderen Kulturkreis kommen oder warum?«
Thorsten Frei, CDU:
»Natürlich macht es auch unter humanen Gesichtspunkten einen Unterschied, ob sie Kriegsflüchtlinge aus einem…«
Cansin Köktürk, Bündnis 90/Die Grünen:
»Die Menschen aus Syrien leiden jahrelang unter einem Krieg.«
Thorsten Frei, CDU:
»Darf ich den Satz zu Ende sagen?«
Markus Feldenkirchen, DER SPIEGEL:
»Sagen Sie ihn zu Ende, und dann Frau Köktürk.«
Thorsten Frei, CDU:
»Sozusagen in einem Land, das gerade mal anderthalb Flugstunden von Berlin entfernt ist.«
Cansin Köktürk, Bündnis 90/Die Grünen: :
»Sie machen dasselbe wie Ihr Kollege, Herr Merz, gerade!«
Thorsten Frei, CDU:
»Schauen Sie, und es gibt natürlich einen gewaltigen Unterschied bei Flucht in Nachbarländer oder Aufnahme in Nachbarländer. Das ist doch etwas völlig anderes. Deutschland wird allein die Fluchtprobleme der Welt nicht lösen können.«
Cansin Köktürk, Bündnis 90/Die Grünen:
»Sie schweifen doch ab.«
Thorsten Frei, CDU:
»Und wir wollen sie auch nicht alleine lösen.«
Cansin Köktürk, Bündnis 90/Die Grünen:
»Die Frage war, ob wir dann überfordert sind, wenn so viele Menschen aus der Ukraine bei uns bleiben. Sie anworten, es könnte eine Bereicherung sein. Und die Menschen aus Syrien nicht?«
Thorsten Frei, CDU:
»Es kommt doch drauf an.«
Cansin Köktürk, Bündnis 90/Die Grünen:
»Und so, wie Sie es auch sagen.«
Thorsten Frei, CDU:
»Doch, die können auch eine Bereicherung sein. Aber nicht alle. Sicherlich nicht alle natürlich. Aber es kommt doch drauf an, aus welchem kulturellen Hintergrund jemand kommt.«
Cansin Köktürk, Bündnis 90/Die Grünen:
»Das ist Rassismus.«
Thorsten Frei, CDU:
»Nein, das ist kein Rassismus.«
Cansin Köktürk, Bündnis 90/Die Grünen:
»Tut mir leid, aber das ist Rassismus.«
Thorsten Frei, CDU:
»Frau Köktürk, das ist kein Rassismus, sondern es ist am Ende. Sie sind vorhin gefragt worden, wie viel Migration können wir sozusagen.«
Cansin Köktürk, Bündnis 90/Die Grünen:
»Sie brauchen nicht auf mich jetzt abschweifen. Ich bin keine Berufspolitikerin und beschäftige mich nicht jeden Tag mit Zahlen.«
Thorsten Frei, CDU:
»Sie haben ja recht, das kann man nicht mit einer Zahl beantworten. Ich würde sagen, wir können in Deutschland so viele Menschen aufnehmen, wie wir integrieren können.«
Cansin Köktürk, Bündnis 90/Die Grünen:
»Aber dann bleiben Sie doch bei der Antwort…«
Thorsten Frei, CDU:
»Aber nicht jeder ist gleich integrierbar.«
Markus Feldenkirchen, DER SPIEGEL:
»Herr Frei, damit wir Sie nicht falsch verstehen. Sie würden schon sagen, dass…«
Cansin Köktürk, Bündnis 90/Die Grünen:
»Sie sagen, dass Menschen aus Syrien nicht integrierbar sind.«
Thorsten Frei, CDU:
»Nein, das sage ich nicht.«
Cansin Köktürk, Bündnis 90/Die Grünen:
»Oder liegt es vielleicht an Ihren fehlenden Maßnahmen?«
Thorsten Frei, CDU:
»Um Gottes willen. Also ich kenne genügend Menschen aus Syrien, die hervorragend integriert sind.«
Markus Feldenkirchen, DER SPIEGEL:
»Die Frage ist, ob eine der beiden Gruppen eine größere Bereicherung ist, das war meine Ursprungsfrage.«
Thorsten Frei, CDU:
»So pauschal kann man das nicht sagen. Wir haben derzeit eine ganze Reihe von Einbürgerungen von Syrern. Syrer werden im Durchschnitt nach sechseinhalb Jahren Aufenthalt in Deutschland eingebürgert. Ich kenne Familien, die super Jobs haben, die integriert sind, deren Kinder in der Schule erfolgreich sind, die in Vereinen sind. Natürlich sind die eine Bereicherung für unser Land. Aber die Frage ist: Wo ist Integration und in welchem Umfang möglich? Da ist es eine Bereicherung. Und ich sage genauso klar: Wenn uns Integration nicht gelingt, wenn Parallelgesellschaften entstehen, dann ist es keine Bereicherung für unsere Gesellschaft. Und daran muss sich doch Politik orientieren.«
Markus Feldenkirchen, DER SPIEGEL:
»Eine Replik darauf von Frau Köktürk.«
Cansin Köktürk, Bündnis 90/Die Grünen:
»Nicht die Menschen müssen sich ändern, die Gesetze müssen sich ändern. Sie sagen, manche Menschen sind nicht integrierbar. Das stimmt überhaupt nicht. Ich habe so viele Menschen kennengelernt, die arbeiten wollten, die eine private Wohnung gefunden haben, tatsächlich, aufgrund ihrer Arbeit. Es gibt eine Wohnsitzauflage. Finden Sie erst mal einen Arbeitgeber, der die Menschen arbeiten lässt, wenn sie eine Duldung haben von nur drei Monaten. So, es sind so viele lebensweltliche Grenzen, die diesen Menschen gesetzt wurden, sodass eine Integration gar nicht stattgefunden wurde. Und dann wären wir auch schon bei der Frage: Will man diese Menschen überhaupt integrieren? Vielleicht sollte man sich das als Politiker oder Politikerin mal fragen, weil irgendwie passt das ja alles gar nicht zusammen. So, wie sie mit den Menschen aus der Ukraine umgegangen sind und den Menschen aus Syrien und Afghanistan.«
Markus Feldenkirchen, DER SPIEGEL:
»Herr Lindh, haben Sie an dem, was Sie von Herrn Frei gehört haben, ähnlich wie Frau Köktürk, Rassistisches erkennen können?«
Helge Lindh, SPD:
»Zumindestens sind das rassifizierende Kategorien oder kulturalistische Kategorien, die man in die Ordnung einschieben kann. Ich will jetzt nicht sagen, würde ich nicht sagen, Herr Frei ist Rassist. Nur, es ist natürlich schon da, eine Zwei-Klassen-Behandlung, die Sie deutlich gemacht haben, und es ist unter kulturellen Argumenten verborgen eine Unterscheidung.«
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