Flucht aus Afghanistan: „Sonst hätte ich eine meiner Nieren verkauft“
Im derzeitigen Aufnahmestopp wird Afghaninnen trotz gültiger Visa die Einreise nach Deutschland verwehrt. Viele befinden sich dadurch in einer verzweifelten Lage.
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Flucht aus Afghanistan
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„Sonst hätte ich eine meiner Nieren verkauft“ – Seite 1
Eigentlich sollte es inzwischen systematischen deutschen Schutz vor dem Terror der Taliban geben: Seit 17. Oktober 2022 gibt es das lang angekündigte Bundesaufnahmeprogramm für gefährdete Afghan*innen (BAP). Die Bilanz? Ernüchternd. Bis dato ist darüber kein einziges Visum erteilt worden, aktuelle Aufnahmen erfolgen über eine Übergangsregelung für akut gefährdete Personen. Obendrein herrscht seit Ende März ein sogenannter Ausreisestopp. Das heißt, die deutsche Seite hilft afghanischen Gefährdeten trotz Aufnahmezusage – also durch deutsche Ministerien anerkannte Gefährdung – nicht nach Deutschland zu kommen. Was das für zwei Frauen und deren Familien bedeutet, zeigen hier zwei Fallbeispiele aus Afghanistan und Iran.
Lina E. ist eine
junge Afghanin, die noch im Land lebt. Sie hatte sich für das
Bundesaufnahmeprogramm registriert, wollte nach Deutschland ausreisen und bekam
eine Zusage. Als ich mit ihr spreche, erklärt sie, was die Entscheidungen der
deutschen Politik für sie persönlich bedeuten: „Ich glaube, die deutsche
Regierung weiß nicht, welche Wirkung der Aufnahmestopp auf uns hat: Wir leben jeden
Tag wie in einem Albtraum.“
Lina E. hat
Angst und verlässt das Versteck im Haus ihres Onkels nicht, in dem sie sich mit
Eltern und Geschwistern derzeit ein Zimmer teilt. Sie war als 15-Jährige verheiratet
worden, bis sie sich eine Scheidung gegen alle gesellschaftlichen Zwänge
erstritt. Die Entscheidung wurde ihr nicht leicht gemacht: Im Scheidungsvertrag
stand, dass sie ihren Sohn nicht mehr sehen darf. Nach der Scheidung setzte sie
sich ehrenamtlich für Frauen ein, die ihr Schicksal teilten, und studierte
Germanistik. Seit der Machtübernahme der Taliban hat ihr Ex-Mann wieder mehr
Einfluss auf ihr Leben gewonnen: Staatliche Strukturen, die sie schützen
könnten, gibt es nicht mehr. „Ich kann das Haus kaum noch verlassen, einen
Beruf auszuüben, wäre auch viel zu gefährlich“, schildert sie. Zuvor hatte sie
unter anderem für die Lokalregierung gearbeitet, außerdem für die NGO War Child.
Sie protestierte auch immer wieder – mal auf Demos, mal im Kontakt mit Familien
– gegen Zwangsehe und zu Beginn der Taliban-Zeit auch gegen Zwangsverschleierung.
Für Letzteres erhielt sie eine direkte Verwarnung der Taliban.
Zusätzlich zu den
persönlichen Drohungen gegen sie kommen die Repressionen der Taliban, die sich
gegen alle Frauen richten. Parks und Freizeiteinrichtungen dürfen sie nicht
besuchen, öffentliche Bäder ebenso wenig, die meisten Berufe sind untersagt –
auch die Mitarbeit in NGOs. Bei Verstoß drohen nicht nur den Frauen drakonische
Maßnahmen wie öffentliches Auspeitschen. Meist bestrafen die Taliban männliche
Familienmitglieder stellvertretend oder zusätzlich, da diese die Frauen
beaufsichtigen sollen. Ohne einen solchen Verwandten als „Aufpasser“ –
offiziell Mahram genannt – dürfen Frauen sich auch nicht weitere Strecken
fortbewegen oder gar das Land verlassen.
Da Lina E. aufgrund
all dessen um ihre Sicherheit und ihr Leben fürchtete, wandte sie sich in
E-Mails an das Auswärtige Amt (AA) – kurz nach der Machtergreifung der Taliban kursierten
die Krisenmailadressen für Gefährdete. Schließlich, nach mehr als einem Jahr
des Bangens, erkannten die zuständigen Ministerien – AA und Bundesministerium des Innern (BMI) – die von ihr
geschilderte Gefährdungslage als Gründe für ein humanitäres Visum an. Kurze
Zeit später konnte sie dann auch für ihre Eltern und Geschwister Aufnahmezusagen
erhalten. Auf die große Freude folgte sogleich die nächste Hürde: Ihre
Geschwister hatten keine gültigen Reisepässe und die Passämter waren unter
Kontrolle der Taliban. Das bedeutet, dass sie zwar offiziell geöffnet sind und man
online einen Termin beantragen kann. Aber sowohl bei der Terminvergabe, der
Ausstellungsdauer und den Passgebühren herrscht Willkür. „Obwohl die
zuständigen Mitarbeiter des Programms von den Zuständen auf den von den Taliban
kontrollierten Passämtern wussten, bestanden sie darauf, dass wir Pässe
brauchen“, sagt sie und führt aus: „Die einzige Möglichkeit, einen Pass zu
bekommen, war eine riesige Summe Geld zu bezahlen. So mussten wir unser Haus mit
all seinen Möbeln verkaufen, um die Pässe zu bekommen.“
Umgerechnet 6.000 Euro
hätten sie bezahlt. „Ich war sehr glücklich, dass wir ein Haus haben,
denn hätten wir kein Haus gehabt, hätte ich eine meiner Nieren
verkauft, damit meine Familie und ich ein Leben in Frieden und Freiheit führen dürfen.“ Auch werde
sie den Tag nie vergessen, an dem ihr Bruder in der Schlange zum Passamt in
Kabul von den Taliban ausgepeitscht worden sei.
Als sie dann
der Iran Taskforce mitteilte (einem Dienstleister der deutschen Regierung,
der für die Unterstützung von Ausreisen gefährdeter Afghan*innen via Iran
zuständig ist), dass sie die Pässe bekommen hätten und alle reisefertig seien,
erhielt sie erst gar keine Nachricht und fünf Tage später die Information über
den Ausreisestopp. „Das war der schlimmste Tag“, sagt sie, „ich konnte nicht
aufhören zu weinen. Zwei Tage lang habe ich mich nicht getraut, meiner Familie
die Nachricht zu überbringen.“ Seit der erschütternden Nachricht Anfang April
gehe es ihnen jeden Tag schlechter. Sie hielten sich entfernt von ihrer
Heimatstadt im Haus ihres Onkels auf, um nicht entdeckt zu werden. Denn
spätestens seit dem Hausverkauf sei für die Taliban klar, dass sie das Land
verlassen wollten; ihre Gefährdung habe sich dadurch verschärft, denn wer gehen
will, gilt als Verräter: „Wir sterben innerlich jeden Tag mehr.“
„Ich habe all mein Erspartes ausgegeben“
Welche Sicherheitsprobleme zu dieser drastischen Maßnahme geführt haben? Während das Bundesinnenministerium auf Anfragen erst gar nicht reagiert, verweist das Auswärtige Amt auch einen Monat später noch auf die
Regierungspressekonferenz vom 5. April. Dort erklärte Sprecher Cristofer
Burger: „Es ist richtig, dass es in den vergangenen Wochen vereinzelte Hinweise
auf mögliche Missbrauchsversuche gegeben hat.“ Missbrauch heiße in fast allen
Fällen, dass sich eine Person beispielsweise in der Zwischenzeit in einen sicheren
Drittstaat begeben habe. Oder es habe unklare Familienstrukturen gegeben: „Es
hat zum Beispiel jemand eine Nichte als Tochter ausgegeben, damit sie im Rahmen
der Kernfamilie mitberücksichtigt würde.“ Diese Art von Missbrauchsfällen und
überhaupt Betrugsversuche seien „für uns an unseren Visastellen weltweit,
ehrlich gesagt, unser täglich Brot.“
Journalistin
und Aktivistin Theresa Breuer, die sich als Mitgründerin der Kabul Luftbrücke
eineinhalb Jahre lang für das BAP und dessen gerechte Ausgestaltung eingesetzt hat,
zeigt sich wenig überrascht über den Stopp und kritisiert die Vorgehensweise
grundsätzlich. Ohne zentrale Anlaufstelle für Betroffene und geheim gehaltene
beteiligte Organisationen handle es sich um ein „Buddies von“-Programm statt um
einen humanitären Auswahlprozess. Über die noch oder vormals am BAP beteiligten
Organisationen wie zum Beispiel Kabul Luftbrücke sagt sie: „Wir hätten hier
die Türsteher Deutschlands werden sollen.“ Die Vorgehensweise habe obendrein
vorhersehbar ins Chaos geführt. Daher habe sie sich schließlich aus der Arbeit zurückgezogen: „Es macht für mich keinen Sinn, mich weiter zu einer Komplizin dieser Farce zu
machen.“
Auf die konkrete Frage zu vorübergehenden Schutzmaßnahmen für Afghan*innen mit Aufnahmezusagen, die nun doch nicht ausreisen dürfen, antwortet das Auswärtige Amt nicht. Allgemein heißt es: „Bis zur Etablierung zusätzlicher Sicherheitsmechanismen finden keine Einreisen von aufgenommenen afghanischen Staatsangehörigen nach Deutschland statt. Hierbei erfolgt keine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Aufnahmeverfahren.“ Damit sei aber kein Stopp der Aufnahmen oder des Bundesaufnahmeprogramms verbunden. Schritte, die unabhängig vom Ausreiseverfahren erfolgen könnten, insbesondere die Meldung und Erfassung neuer Fälle akut gefährdeter Personen, würden fortgesetzt. Auch dazu, ob es irgendeine Form der Unterstützung wie etwa Safe Houses für Menschen gebe, die sich durch das Outen als Ausreisewillige etwa durch die Pass- und Drittlandvisumsbeschaffung zusätzlich gefährdet hatten, gibt es keine Auskunft. Zu den in Afghanistan verbliebenen Menschen mit Schutzzusage heißt es lediglich: „Sowohl die unterstützte Ausreise als auch Visabearbeitung für afghanische Staatsangehörige, denen eine Aufnahme in Deutschland zugesagt wurde, sind von der Aussetzung umfasst.“
Dass Menschen, die auf eigene Faust ausreisen, mit einer solchen Unterstützung nicht zu rechnen haben, wird in einer Antwort des Amtes zu diesem Personenkreis implizit deutlich: „Die Bundesregierung stellt für die [vom Ausreisestopp] betroffenen Personen, die bereits in Absprache beziehungsweise mit Unterstützung der Bundesregierung in einen der Nachbarstaaten ausgereist sind, eine vorübergehende Unterkunft und etwaig erforderliche medizinische Versorgung sicher.“
Konkret erlebt
hat das Fatima Key, eine der Autorinnen aus der 10-nach-8-Reihe Frauen in
Afghanistan. Sie sei sofort selbstständig in den Iran ausgereist, nachdem sie
die Aufnahmezusagen für sich und ihre Familien erhalten habe. „Es war zu
gefährlich, im Land zu bleiben“, erklärt sie, „auch hatte ich große Angst, dass
die Taliban den Frauen irgendwann verbieten würden, überhaupt noch auszureisen.
Sie verbieten uns alles.“
Im Nachbarland seien sie und ihre Schwester dann
zunächst komplett auf sich allein gestellt gewesen. „In der E-Mail, die ich bekam, stand, dass
man erst eine Woche vor dem Termin in der deutschen Botschaft in Teheran eine
Unterkunft im Iran gestellt bekommt, deshalb erwartete ich keine Unterstützung
von Deutschland“, sagt sie. Sie habe mehrfach versucht, einen Botschaftstermin
zu erhalten, aber man habe sie abgewiesen. Die Nachricht über den Ausreisestopp
habe sie erst später per E-Mail erreicht und die Situation zumindest etwas
erklären können, denn die Botschaft habe ihr lediglich gesagt, dass ein Termin
nicht möglich sei. „In der Mail stand auch, dass wir nicht in den Iran
ausreisen sollten, sondern abwarten, und dass unsere Visa in Pakistan
ausgestellt werden würden. Das machte mich sehr hoffnungslos“, schildert sie. Immerhin war sie zu diesem Zeitpunkt ja bereits im anderen Nachbarland und völlig mittellos. „Ich habe all mein Erspartes ausgegeben.“
Einige Tage nach dem Interview meldet sich Fatima erneut; mit guten Neuigkeiten. Sie ist nun doch in einer von Deutschland finanzierten Unterkunft untergebracht worden. Unklar bleibt allerdings weiterhin, wie die Visa nach Pakistan finanziert werden sollen. Fatima und Lina E. hat die Aufnahmezusage von Deutschland bisher vor allem
neue Unsicherheiten gebracht. Unklar ist bisher etwa, ob und wie Fatima Key ein Pakistan-Visum beantragen kann, ohne nach Afghanistan zurückzukehren – denn
üblicherweise müssen Visa vom dauerhaften Wohnsitz aus beantragt werden. Zu
befürchten ist auch, dass ihre düstere Zukunftsvision vom kompletten
Reiseverbot für Frauen innerhalb Afghanistans und an seinen Grenzen eintritt,
bevor Lina E., ihre Schwestern und ihre Mutter das Land verlassen können. Schon
jetzt haben die Taliban Freiheitsbeschränkungen umgesetzt, die in keinem
anderen Land dieser Welt gelten: das Schulverbot für Mädchen ab der sechsten
Klasse etwa.