Fleischersatz: Tofu, Wurst und Wirklichkeit
Was macht die Wurst zur Wurst? Die Pelle? Der
Zipfel? Oder zählen am Ende die inneren Werte; die Frage also, ob das, was als
gesichtslose Masse in einen Natur-, Kunst- oder Zellulosedarm gepresst wurde,
vorher ein Gesicht hatte, ein kaltes Schnäuzchen, einen Ringelschwanz oder
zumindest Schnabel und Klauen?
Es ist also eine aus Sicht der Wurst identitätspolitisch
heikle Frage, über die das EU-Parlament heute befinden musste. Denn die
organisierte Fleischindustrie fürchtet die fleischlose Konkurrenz. Eine Veggie-Wurst, behauptet sie, ist
keine Wurst, ein Soja-Schnitzel kein Schnitzel und ein Kichererbsen-Burger mit
Speckimitation habe mit einem echten Quarter-Pounder mit Käse in etwa so viel
zu tun, wie ein Chicken McNugget mit einem glücklichen Hähnchen der Haltungsstufe
5, also nichts. Was sich Wurst nennt und keine ist, soll fortan einen anderen
Namen tragen.
Es gelte, sagen die Unterstützer
des Vorhabens, den guten Ruf der Schlachtvieh produzierenden Bauern zu
schützen, von dem die Erbsenbrater angeblich profitieren wollen. Friedrich Merz
(CDU) gefällt das: „Eine Wurst ist eine Wurst und nicht vegan“, verkündete Merz
kürzlich pikiert bei Caren Miosga.
Als hätte die ihm gerade einen kalten Gemüseeintopf mit Fleischersatzbeilage
vorgesetzt, so wie Norbert, der melancholisch-sympathische Schwule aus Der
bewegte Mann (1994), in einer berühmten Filmszene seinen Leder tragenden Freund,
genannt „Der Metzger“, mit einer Tofuwurst ins Bett kochen will, vergeblich
natürlich. „Also, ist das wieder keine echte Wurst, oder was?“, fragt der
Metzger in der Szene. Darauf Norbert: „Das ist eine echte Tofuwurst.“
Warum heißt die Wurst nicht Bundeskanzler?
Hinter dem Tätätat am Abendbrot-
beziehungsweise Talkshowtisch steckt eine philosophische Grundkursfrage:
Warum heißt die Wurst Wurst und nicht anders, etwa Buch, Bild oder
Bundeskanzler? Um es kurz zu machen: Weil der Wirklichkeitsbezug eines Wortes damit
zusammenhängt, auf welche Wirklichkeit sich die Mehrheit einigen kann. So war
seit Jahrtausenden nur eine Art von Wurst denkbar: die aus Fleisch und Blut. Im
18. Gesang der Odyssee etwa sind Antinoos und Odysseus bereit, sich wegen
eines mit Fett und Gekröse gefüllten Ziegenmagens in Scheiben zu hauen: Damals
wurde das Abendland erfunden. Seitdem gehörte die Wurst wie selbstverständlich
dazu.
In Homers Abendland wusste jedenfalls anscheinend noch jeder,
was drin ist in der Pelle. Heute ist
das anders, auch das kann man im Bewegten Mann lernen. Da wirft Norbert
seinem Liebesmetzger Gemüseeintopf löffelnd vor, im Schlachthof unschuldige
Tiere zu meucheln. Und der Metzger kontert: „Ich murkse keine Tiere ab. Ich
entleere Schweinedärme, die werden dann zu Wurstpelle verarbeitet. Das ist eine
saubere Angelegenheit: Du nimmst das Darmende, stülpst es über einen Wasserkran
und spülst es durch. Scheiße bleibt da selten hängen – die wird mitverarbeitet,
das merkt kein Mensch.“
Ob Markus Söder (CSU) daran denkt, wenn er,
wie so oft in den letzten Jahren, für die Kameras beherzt in ein Nürnberger
Rostbratwürstchen beißt? Sicher nicht. Er hat sich längst erfolgreich
entfremdet von der Wurst, wie sie ist, und denkt lieber ans Abendland, das er
erfolgreich verwurstet. Am Grill verteidigt er es regelmäßig gegen alle
grün-veganen Norberts, für die eine Tofuwurst tatsächlich eine echte Wurst ist,
die daran glauben, dass das, was sie essen, wahr ist und nicht nur eine große
Lüge, um der bayerischen Bauernschaft zu schaden. Denn gibt es zu viele
Norberts, denken sich wohl Söder und Merz, verschiebt sich der Wirklichkeitsbezug im
Abendland. Dann ist alles möglich, sogar der Siegeszug der Veggiewurst. Genau das soll verhindert werden, wie das EU-Parlament heute befand: Soll die Veggiewurst doch Sojastängel heißen.
Aber dann schreit sicher bald der Fachverband Deutscher Floristen. Denn einer
schreit immer, wenn es um die Wurst beziehungsweise um den Stängel geht.