Flaute | Wo bleibt jener wirtschaftliche Aufschwung, Herr Merz?
Während der Wirtschaftsnobelpreis an drei Ökonomen geht, die sich mit Innovation auskennen, schreitet hierzulande die Deindustrialisierung voran. Dabei hatte die CDU im Wahlkampf den Aufwärtstrend versprochen. Woran scheitert die Regierung?
Er wird sich doch keine Hoffnungen auf den Wirtschaftsnobelpreis gemacht haben – oder? Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU)
Foto: Maja Hiti/ Getty Images
Eine zentrale Idee in der Gedankenwelt der Ökonomen Joel Mokyr, Philippe Aghion und Peter Howitt ist die „kreative Zerstörung“. In diesem Jahr wurde den drei der Nobelpreis für Ökonomie verliehen. Es geht um Innovationen und deren Rolle für langfristiges Wachstum. Doch während in Stockholm über Wachstumstheorien philosophiert wird, bleibt hierzulande der von Kanzler Friedrich Merz (CDU) versprochene Aufschwung ein blasses Versprechen. Von Innovation können wir in Deutschland zurzeit nur träumen. Woran liegt das? Und welche linken Ideen gibt es, diesen Zustand zu verändern?
Im zweiten Quartal 2025 schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 0,3 Prozent. Die Industrie erlebt fortgesetzte Einbrüche, Exporte stagnieren oder fallen, und Unternehmen kündigen Stellenstreichungen in Schlüsselbranchen an – 13.000 bei Bosch, 7.600 beim Automobilzulieferer ZF, 1.900 bei Porsche. Die Zerstörung ist offenkundig. Aber was ist daran kreativ?
Die Industrieproduktion in Deutschland ist seit November 2017 um 20 Prozent geschrumpft
Vor einem Jahr wurde viel darüber diskutiert, ob sich Deutschland auf einem Kurs der Deindustrialisierung befindet. Aus linken Kreisen wurde diese Diagnose teils harsch als „rechtes Narrativ“ zurückgewiesen. Statt Diskurskritik hilft hier ein Blick auf die nackten Zahlen. Drei Kernindikatoren – Arbeitsplatzentwicklung, Industrieproduktion und Investitionsentwicklung – können uns Aufschluss geben, wohin die wirtschaftliche Reise geht. Alle drei sprechen eine klare Sprache. Leider ist die Botschaft alles andere als witzig.
Der Jobabbau in der Industrie schaltet vom dritten in den fünften Gang: Von Juli 2024 bis Juli 2025 sind – nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit – in Deutschland 154.000 Industriearbeitsplätze verloren gegangen. Zum Vergleich: Im Jahr zuvor – von Juli 2023 bis Juli 2024 – waren es noch 65.000, und das war schon viel. Die Geschwindigkeit, mit der Jobs in der deutschen Industrie verschwinden, hat sich binnen Jahresfrist mehr als verdoppelt.
Gut zwei Drittel dieser zuletzt gestrichenen Stellen entfallen auf die Kernbranchen Metall, Elektro und Stahl. Dazu kommen noch 52.000 gestrichene Stellen in der Leiharbeit. Zugleich geht die Industrieproduktion deutlich zurück: Sie lag im August um 3,9 Prozent unter dem Output ein Jahr zuvor. Das sind leider keine kurzfristigen Schwankungen, sondern ein ungebrochener Abwärtstrend, der bereits 2018, weit vor der Corona-Pandemie, einsetzte und sich seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs verfestigt hat. Seit ihrem Höchststand im November 2017 ist die Industrieproduktion in Deutschland um fast 20 Prozent, also ein Fünftel, geschrumpft – wie aus den Daten des Statistischen Bundesamtes hervorgeht. Rückläufig sind kurz- wie mittelfristig auch Exporte und Auftragseingänge.
An Ambitionen mangelt es bei den Konservativen nicht – woran dann?
Angestiegen ist indessen über das letzte Jahr die Zahl der Firmenpleiten – um 13,4 Prozent. Investitionen gelten als Schlüssel zu Wohlstand, Innovation und Klimaschutz. Doch wenn man die Entwicklung der industriellen Investitionen in Deutschland betrachtet, wirkt dieser Schlüssel zunehmend rostig. Während Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) mit „Boosterprogrammen“ wirbt und Friedrich Merz die Entfesselung der Wirtschaft predigt, zeigen die Zahlen: Die Industrie hält sich zurück – oder investiert lieber woanders.
Dabei hatte gerade die Union im Bundestagswahlkampf versprochen, dass sich die „Grundstimmung“ in Deutschland innerhalb der ersten 100 Regierungstage ändern würde. Kanzleramtschef Thorsten Frei hatte einen „Booster“ für die Wirtschaft auf die Top-3 der Prioritätenliste gesetzt – neben den Themen Haushalts- und Migrationspolitik. Und noch im Juli tönte Merz beim Sommerfest des „Parlamentskreises Mittelstand“ stolz, dass Katherina Reiche glücklicherweise Wirtschafts- und nicht Klimapolitik betreibe. An Ambitionen mangelt es also besonders bei den Konservativen nicht. Warum sehen wir dann noch immer keinen Aufschwung?
Sogar das Gegenteil findet statt: Deutschlands Investitionsklima kühlt ab. Laut einer Analyse des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) verlagern immer mehr Unternehmen ihre Investitionen ins Ausland. 35 Prozent der geplanten Ausgaben im verarbeitenden Gewerbe sollen nicht mehr in Deutschland stattfinden – so viele wie seit der Finanzkrise 2008 nicht mehr. Hauptgrund: Kostensenkung. In Osteuropa und Asien lässt sich billiger produzieren. Deutschland wird als Standort zunehmend unattraktiv.
Der industrielle Aufbruch bleibt eine PR-Vokabel – belegen lässt er sich nicht
Auch in der Umfrage der internationalen Wirtschaftsberatung Deloitte zur Investitionsplanung fällt die Industrie aus dem Rahmen. Während Dienstleistungsunternehmen optimistischer werden, melden Industrieunternehmen einen Rückgang ihrer Investitionspläne um elf Prozent. Ob Maschinenbau, Chemie, Automobilproduktion – sie fahren ihre Aktivitäten zurück, geografisch wie strukturell. Der Umbau, den die Regierung Merz propagiert, wirkt damit zunehmend wie eine einseitige Schieflage: Öffentliches Geld soll „Wachstum“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ stimulieren, doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Die Wettbewerbsfähigkeit wird auf dem Rücken der Beschäftigten organisiert – mit Flexibilisierung, Rentenkürzung und Bürgergeldverschärfung. Der industrielle Aufbruch bleibt eine PR-Vokabel – ökonomisch lässt er sich nicht belegen.
Die Merz-Regierung steht an einem neuralgischen Punkt: eingekeilt zwischen einer eskalierenden geopolitischen Lage, einem globalen Wettlauf um technologische Vorherrschaft und dem sichtbaren Bedeutungsverlust des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Doch statt Antworten auf die komplexen Herausforderungen der Gegenwart zu liefern, verfängt sich die Bundesregierung zunehmend in einem autoritären Reaktionsmuster: Sozialabbau, Deregulierung, Kriegshysterie.
Getrieben von finanzmarktzentrierten Pressure Groups und einer diskursiven Verschiebung hin zu „schöpferischer Zerstörung“ und „Zumutbarkeit“ droht ein gefährlicher Kurs: Innenpolitisch werden arbeitsrechtliche Standards aufgeweicht, Mitbestimmung und Tarifbindung als Reformhemmnisse geframt, das Bürgergeld zum Disziplinierungsinstrument rückgebaut. Außenpolitisch wird ein gefährliches und klimaschädliches Hochrüstungsprogramm forciert – verbunden mit der aberwitzigen Vision, daraus einen industriellen Wachstumspfad abzuleiten.
Was kritische Ökonomen fordern
Doch dieser „Rettungsanker“ trägt nicht: Die volkswirtschaftlichen Daten und Fakten sprechen eine andere Sprache, allen voran die Arbeitsmarktzahlen. Was bleibt, ist die Illusion eines Aufbruchs, während sich die Realität für die meisten längst anfühlt wie Abwicklung.
Kritische Ökonomen wie Tom Krebs oder Sebastian Dullien fordern seit Langem eine andere Richtung: eine strategisch ausgerichtete, sozial eingebundene Industriepolitik; einen aktiven Staat, der öffentliche Investitionen nicht einfach an die lautesten Lobbygruppen als Standortprämien verteilt, sondern an klare gesellschaftliche Kriterien bindet – Klimaziele, Tarifstandards, regionale Gerechtigkeit. Doch dieser Paradigmenwechsel bleibt aus.
Stattdessen: Flickwerk, Flickflack, Fördermillionen ohne Bindung. Die Kapitalflüsse suchen sich längst andere Wege. Der industriestaatliche Unterbau bröckelt, während die politische Sprache immer autoritärer wird. Was fehlt, ist nicht Geld, sondern Richtung, Haltung, Vision.