Filmfestival in Cannes: Das Land will in die Stadt

Auch wir haben Cannes, dem wichtigsten Filmfestival der Welt, immer mal wieder vorgehalten, zu viele Stammgäste und Regieveteranen in seinem Wettbewerb zu versammeln. Die Stars kommen schließlich sowieso, auch in diesem Jahr drängeln sich auf dem roten Teppich glamouröse Regiedebütantinnen (Kristen Stewart), Jurypräsidentinnen (Juliette Binoche), Abgesandte von Kosmetikfirmen und Luxusmarken (Jane Fonda, Nicole Kidman), Blockbusterbuben (Tom Cruise) und der Ehrenpreisträger (Robert De Niro, der zur globalen Verteidigung der Demokratie und zu Protesten gegen einen kulturlosen US-Präsidenten aufrief).

Doch diesmal scheint ein anderes Lüftchen durch die cineastische Luxusvitrine zu wehen. Eröffnet wurde das Festival mit dem ersten Spielfilm einer noch zu entdeckenden Regisseurin: Partir un jour („Eines Tages abhauen“) von Amélie Bonnin. Er handelt von einer aufstrebenden Pariser Köchin, die wegen ihres kranken Vaters zurück in das Fernfahrerrestaurant ihrer Eltern kommt. Außerdem sind da: eine ungewollte Schwangerschaft, die ehemalige große Liebe und das Leben überhaupt. Zwischen Tanz- und Gesangseinlagen und einer Küche, der man ansieht, dass dort wirklich gekocht wird, gelingt es dem Film, von Frankreich zu erzählen, von seiner Kulinarik, dem Verhältnis von Provinz und Hauptstadt, von denen, die dableiben, und denen, die eines Tages weggehen („Als ich meinen Freunden erzählte, dass ich von Michelin träume, dachten sie, ich wolle in einer Reifenfirma arbeiten“).

Dieser Musical-Film ist nicht die Neuerfindung des Kinos, und die französische Tageszeitung Libération hat ihn bereits vor der Premiere in die Tonne getreten, aber dennoch findet er einen Ton, einen Blick für das widersprüchliche Gebilde der Familie, der Kindheitsfreunde, der Herkunft: Man fühlt sich heimisch und ist trotzdem fremd, man hat sich verändert, aber keiner sieht es.

Vielleicht verändert sich ja wirklich etwas in Cannes. Gleich mit ihrem zweiten Spielfilm landet die in Berlin lebende Regisseurin Mascha Schilinski im Wettbewerb. In die Sonne schauen erzählt über hundert Jahre hinweg von vier Frauen auf einem Hof in der Altmark. Was lässt sich entdecken in diesem Mäandern zwischen Schicksalen, Geschlechterbildern und Zeiten? Auch die Filme von Fatih Akin (Amrum) und Christian Petzold (Miroirs No. 3) feiern ihre Weltpremiere an der Croisette. Was verrät uns die deutsche Provinz, die in allen drei Filmen Schauplatz ist? Was tut sich im deutschen Kino, das an der Côte d’Azur in den letzten Jahren kaum präsent war? Vielleicht werden wir in den kommenden zwölf Tagen darauf eine Antwort finden. Vielleicht auch nicht.

Viele Zeichen werden in Cannes, diesem Tempel der Filmkunst und Inbegriff der Spektakelgesellschaft, noch zu deuten sein. Man hört, dass Apartments von Festivalbesuchern wegen Kakerlakenbefall und Giftbehandlung storniert wurden (unseres nicht), Frauen dürfen auf dem roten Teppich seit diesem Jahr ganz offiziell auch flache Schuhe tragen, und kleine Jachten sind jetzt schon für 7.200 Euro pro Tag zu haben.