Fall „Radio Dreyeckland“ – Generalstaatsanwaltschaften Karlsruhe und Stuttgart stützen Repression gegen Sender RDL

In der vorletzten Woche (16. Mai) hatte das Landgericht Karlsruhe die Eröffnung des strafrechtlichen Hauptverfahrens gegen den Redakteur von Radio Dreyeckland, Fabian Kienert, abgelehnt. Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe wirft ihm weiterhin vor, insbesondere durch Setzung eines Links auf das Archiv der seit 2017 nicht mehr erscheinenden online-Zeitung linksunten.indymedia, einen verbotenen Verein unterstützt zu haben. Bei diesem Verein soll es sich um den früheren BetreiberInnenkreis von linksunten.indymedia handeln, so interpretiere das Bundesverwaltungsgericht 2020 die Verbotsverfügung (BAnz AT 25.08.2017 B 1) des Bundesinnenministeriums aus dem Jahre 2017 (https://www.bverwg.de/de/290120U6A1.19.0, Textziffer 33).

Staatsanwaltschaft uneinsichtig

Am Montag vergangener Woche teilte die Staatsanwaltschaft dann mit, daß sie kurzfristig nach dem landgerichtlichen Beschluß (zunächst noch ohne Begründung [Badische Zeitung vom 23.05.2023]) Beschwerde gegen diesen eingelegt hatte (FSK vom 22.05.2022; s.a. RDL vom 23.05.2022).

Inzwischen wurde auch die Beschwerdebegründung geschrieben und von der Staatsanwaltschaft Karlsruhe – via Generalstaatsanwalt Karlsruhe und Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart – beim Oberlandesgericht Stuttgart eingereicht, wo das gerichtlichen Verfahren das Aktenzeichen 2 Ws 2/23 erhalten hat (Auskunft der Presseerstelle des Oberlandesgerichts vom heutigen Tage).

Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe teilte dazu heute auf Anfrage mit:

„Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe hat die Beschwerdebegründung vor der Weiterleitung an die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart im Rahmen der ihr obliegenden Dienstaufsicht überprüft. Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart, der keine Dienstaufsicht zukommt, hat die Beschwerde vor der Vorlage an das Oberlandesgericht in rechtlicher Hinsicht überprüft. Dabei blieb die Beschwerdebegründung der Staatsanwaltschaft Karlsruhe unverändert.“

Die Pressestelle des Oberlandesgerichts Stuttgart ergänzte auf meine Frage, Wie lautet genau der Antrag der StA: Eröffnung des Hauptverfahrens zu dem Tatvorwurf in der Anklageschrift oder ein Minus davon?“,

„Die sofortige Beschwerde richtet sich insgesamt gegen den Beschluss des Landgerichts, mithin wird die Nichteröffnungsentscheidung insgesamt angriffen.“

Ein Zeitplan für das Verfahren vor dem Oberlandesgericht steht noch nicht fest: „Der zuständige zweite Strafsenat prüft derzeit das weitere Vorgehen“, so die dortige Pressestelle heute auf entsprechende Anfrage. (Zum Vergleich: Vor dem Landgericht Karlsruhe hatte es folgenden zeitlichen Ablauf gegeben: Donnerstag, den 20. April wurde Anklage erhoben, am 4.5. endete die Frist für die Stellungnahme der Verteidigung und am 16.5. fiel die Entscheidung. Es dauerte also von Anklageerhebung bis Entscheidung knapp vier Wochen.)

Zum Inhalt der Beschwerdebegründung (also den Argumente gegen den Nicht-Eröffnungs-Beschluß des Landgerichts Karlsruhe) mochten mir die Staatsanwaltschaften Karlsruhe und Stuttgart – unter Hinweise auf Notwendigkeit der vorherigen Übermittlung der Begründung an die Verfahrensbeteiligten (vorliegenden also noch: des Angeschuldigten und seiner Verteidigung) – noch nichts mitteilt.

Zivilgesellschaftliche und behördliche Stellungnahmen

Schon vor Eingang der neusten Informationen hatte ich einige zivilgesellschaftliche und behördliche Stellungnahmen zur Entscheidung des Karlsruher Landgerichts, dem Ermittlungsverfahren überhaupt und zu deren künftige Entwicklung eingeholt.

Staatsanwaltschaft Karlsruhe: Keine personellen Konsequenzen

Zunächst hatte ich die Pressestelle der Staatsanwaltschaft Karlsruhe – noch bevor die Beschwerdeeinlegung mitgeteilt wurde – gefragt: „Gedenkt die Leitung Ihres Hauses Konsequenzen (z.B. personelle Umsetzungen in der Ermittlungsabteilung V) aus der – jedenfalls zunächst einmal – gescheiterten Anklage zu ziehen?“ Die Antwort lautetet schlicht: „Nein.“

In der Zivilgesellschaft stößt diese Haltung durchaus auf Widerspruch (siehe unten). Hinzukommt: Das Scheitern staatsanwaltlicher Anklagen bereits im sog. Eröffnungs- oder Zwischenverfahren ist etwas ziemlich Seltenes: In alle Regel werden Anklageschriften für geeignet befunden, in einer mündlichen Verhandlung geprüft zu werden. Zum Beispiel 2021 wurden von den Landgerichten im Gerichtsbezirk des Oberlandesgerichts Karlsruhe als erster Instanz insgesamt 653 Verfahren erledigt. Davon wurde nur 20 durch Nicht-Eröffnung des Hauptverfahrens erledigt – das sind also ungefähr 3 %. Nicht-Eröffnungs-Beschlüsse können also als deutliche Kritik an der Argumentation und Arbeitsweise der im jeweiligen Fall anklagenden Staatsanwaltschaft verstanden werden.

Aber auch die – der Staatsanwaltschaft Karlsruhe übergeordneten – Behörden sind bisher wenig geneigt, den zivilgesellschaftlichen Kritik praktische Konsequenzen folgen zu lassen.

Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe:

Alles bewegt sich in den rechtsstaatlich normalen Bahnen

Die – der Staatsanwaltschaft Karlsruhe unmittelbar übergeordnete – Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe hatte – schon vor Durchwinken der Beschwerdebegründung – am Montag, den 22.05. auf Anfrage erklärt:

„Die Durchsuchungen fanden aufgrund richterlicher Anordnungen des Amtsgerichts Karlsruhe statt. Das Amtsgericht hat in diesem Zusammenhang das Vorliegen eines Anfangsverdachts, das ebenso Voraussetzung für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ist, geprüft und bejaht. Dass das Landgericht Karlsruhe unabhängig über das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts und die Eröffnung des Hauptverfahrens entscheidet, ist in einem Rechtsstaat selbstverständlich.“

Ich hakte ich am selben Tag noch einmal nach:

„Es verhält sich doch vorliegend aber nicht so, daß sich ein anfänglicher Tatverdacht im Zuge des Ermittlungsverfahrens nicht erhärten ließ oder sogar ausgeräumt wurde. Vielmehr ist es so, daß das Landgericht aus Rechtsgründen den Tatverdacht verneint. Diese Rechtsgründen bestanden aber schon zum Zeitpunkt der Einleitung des Ermittlungsverfahrens. Trotzdem hat sich die Staatsanwaltschaft Karlsruhe in dem ganzen Ermittlungsverfahren anscheinend nie mit der Frage befaßt, ob der angeblich unterstützte ‚Verein‘ (weiterhin) existiert […]. Ist darin nicht schon mindestens eine Nachlässigkeit des sachbearbeitenden (ermittelnden) Staatsanwaltes zu sehen? – zumal die Entscheidung des Landgerichts insoweit ja nun alles andere als überraschend ist.“

Darauf erhielt ich dann am nächsten Tag folgende Antwort:

„Aus dem Umstand, dass das Landgericht Karlsruhe die Eröffnung des Hauptverfahrens aus rechtlichen Gründen abgelehnt hat, kann nicht der Schluss gezogen werden, dass die Anklageerhebung auf Nachlässigkeit oder Willkür beruhte. Gesetze und damit auch Straftatbestände bedürfen der Auslegung. Es gehört in Rechtswissenschaft und Justiz zum Alltag, dass zu Rechtsproblemen unterschiedliche Auffassungen vertreten werden. Dass ein Gericht zu einer anderen rechtlichen Beurteilung als die Staatsanwaltschaft oder ein anderes Gericht gelangt, ist daher nichts Ungewöhnliches und Zeichen eines funktionierenden Rechtsstaates. Wie Ihnen die Staatsanwaltschaft Karlsruhe mitgeteilt hat, hat sie gegen den Beschluss des Landgerichts Karlsruhe Beschwerde eingelegt, so dass insoweit mit einer obergerichtlichen Entscheidung zu rechnen ist.“

Das baden-Württembergische Justizministerium:

Wir waren nicht beteiligt und werden uns auch nicht einmischen

Auch das baden-württembergische Justizministerium, das seinerseits noch über den Generalstaatsanwalschaften (BaWü hat mehrere) steht, sieht ebenfalls keinen Anlass zum Eingreifen:

„Ermittlungsverfahren werden durch die Staatsanwaltschaften grundsätzlich eigenverantwortlich geführt. Soweit sich aus dem Weisungsrecht der vorgesetzten Stellen Einschränkungen ergeben können, sei angemerkt, dass in Baden-Württemberg der Prüfungsmaßstab für das externe Weisungsrecht […] nur die rechtliche Vertretbarkeit des staatsanwaltschaftlichen Handelns im konkreten Einzelfall ist. Entscheidungen, die einen Beurteilungsspielraum aufweisen, und Ermessensentscheidungen werden nicht auf ihre Zweckmäßigkeit überprüft. Abgesichert wird diese restriktive Praxis des externen Weisungsrechts durch die Regelungen der Anordnung über die Berichtspflichten der Staatsanwaltschaften in Strafsachen (BeStra) vom 30. Juli 2013. […]. Dass das Justizministerium von seinem externen Weisungsrecht im Einzelfall Gebrauch machte, war – einer Sonderkonstellation geschuldet – vor knapp zwanzig Jahren das letzte Mal der Fall.“

In diesem Kontext betont das Ministerium auch, dass es an staatsanwaltlichen Entscheidungen in dem RDL-Verfahren weder beteiligt war noch ist.

Chaos Computer Club: „Prüfung der fachlichen Eignung des verantwortlichen Staatsanwaltes scheint geboten“

Dagegen erklärte der Chaos Computer Club: „Eine Prüfung der fachlichen Eignung des verantwortlichen Staatsanwaltes scheint geboten, um der Sorge Rechnung zutragen, dass das Vorgehen rechtmissbräuchlich oder gar politisch motiviert war.“

Deutschen Journalistenverband, Landesverband BaWü: Staatsanwaltschaft Staatsanwaltschaft Karlsruhe beging Tabubruch

Andere zivilgesellschaftliche Stellungnahmen zu dieser Frage fallen zurückhaltender aus. So antwortete der Geschäftsführer des Landesverbandes Baden-Württemberg des Deutschen Journalistenverbandes, Gregor Schwarz, die Entscheidung des Landgerichts Karlsruhe zeige, dass rechtsstaatliche Verfahren letztlich funktionieren: „Deswegen halten wir weitergehende Maßnahmen oder Forderungen nicht für nötig“. Er sagte aber auch: „Es ist wenig überraschend, dass dieses Verfahren keine Chance hatte. Die Staatsanwaltschaft war mit der Anklage […] deutlich übers Ziel hinausgeschossen.“ Der Landesvorsitzende des DJV BaWü, Markus Pfalzgraf, ergänzte: „Durchsuchungen bei Journalisten und in Redaktionen sind aus Sicht des DJV völlig unverhältnismäßig“. Insofern sei die Durchsuchungen in dem RDL-Verfahren – mangels gravierender Gründe – ein „Tabubruch“ gewesen.

Kritik im Landtag: FDP-Abgeordneter Weinmann und Grünen Abgeordnete Kern

Auch der FDP/DVP-Abgeordnete im baden-württembergischen Landtag, Nico Weinmann, zeigt sich verwundert über das ganze Verfahren: „Es irritiert, dass die Staatsanwaltschaft und der Ermittlungsrichter die zugrundeliegende Rechtsfrage, ob man ein ggf. nicht mehr bestehendes Gebilde überhaupt – dazu mittels bloßer Nennung eines Links – unterstützen kann, vorher diametral anders bewertet haben, als es das Landgericht Karlsruhe jetzt getan hat. Alternativ wurde diese Rechtsfrage vorher gar nicht beachtet, was sicherlich nicht dem Optimalfall entspräche.“ Weinmann hatte auch bereits eine kritische Anfrage im Landtag gestellt.

Auch die Landtags-Abgeordnte der Grüne, Catherine Kern, kritisiert: „Die Durchsuchungen bei Mitarbeitern von Radio Dreyeckland waren ein tiefgreifender Eingriff in die Pressefreiheit. Wir haben daher immer betont, dass wir diesen Fall genau beobachten werden und gegebenenfalls Konsequenzen und politische Forderungen ableiten werden. Die Entscheidung des Landgerichts spricht nun eine deutliche Sprache, die unser bisheriges Störgefühl bestärkt und uns nochmals zusätzlich alarmiert.“ Sie setzt aber auch hinzu: „Da der Fall jetzt […] vor das Oberlandesgericht kommt, sollten wir die endgültige Entscheidung nun abwarten.“

Auch Staatsanwalt Graulich persönlich ist in den Augen der Abgeordneten als Beamter der Staatsschutz-Abteilung angezählt – auf die Frage, Hielten Sie es für geboten, dass das baden-württembergische Justizministerium […] dienstaufsichtliche Maßnahmen gegen den sachbearbeitenden (anklagenden) Staatsanwaltschaft bei der StA Karlsruhe ergreift?“, ergänzte sie ihre Stellungnahme wie folgt:

„Zunächst sollten wir die Entscheidung des Oberlandesgerichts abwarten. Davor verbieten sich solche Schlüsse. Sollte sich unsere Befürchtung auch dort bestätigen, ist aber klar, dass Maßnahmen getroffen werden müssen, um zukünftige rechtswidrige Eingriffe dieser Art nach Möglichkeit zu vermeiden.“

Die Linke BaWü: „ein großes Problem in der deutschen Justiz“

Die Vorsitzende des Landesverbandes Baden-Württemberg der – nicht im Landtag vertretenen – Linkspartei, Sahra Mirow, sieht die jetzige Entscheidung des Landgerichts Karlsruhe in Kontinuität zur Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes Mannheim, der am 12.10.2020 mit Beschluß zum Aktenzeichen 1 S 2679/19die Durchsuchung des Freiburger Alternativen KTS im August 2017 bei Bekanntgabe der linksunten-Verbotsverfügung des Bundesinnenministeriums für rechtswidrig erklärte: „Es wurde bereits gerichtlich festgestellt, dass die Razzia gegen linksunten.indymedia 2017 nicht rechtens war.“

Außerdem äußert sie: „Die Hausdurchsuchung bei Radio Dreyeckland war ein Angriff auf die Pressefreiheit. […]. Aus der Verlinkung ins Archiv der 2017 aufgelösten Webseite einen Verstoß gegen ein Vereinigungsverbot zu konstruieren, kann daher nur als Einschüchterungsversuch gegen kritischen Journalismus gewertet werden. Das Verfahren gegen Fabian Kienert zeigt erneut, dass es ein großes Problem in der deutschen Justiz gibt. Während Polizei und Staatsanwaltschaft auf dem rechten Auge chronisch blind sind, üben sie sich in einem Verfolgungseifer gegen links, der jede Verhältnismäßigkeit und Rechtsstaatlichkeit vermissen lässt.“ Die Linke BaWü hatte bereits 2017 die Verfügung des Innenministeriums kritisiert.

JuSos BaWü: Kein Zusammenhang mit unserer Arbeit

Auch die JuSos BaWü hatte ich um eine Stellungnahme geben; sie antworteten auch – aber nur Folgendes: „wir sehen […] keinen Zusammenhang zwischen unserer Arbeit als Jusos und der von Ihnen erwähnten Strafsache, weshalb wir keine Stellungnahme dazu abgeben können.“ Auf weitere Nachfrage erfolgte keine ergänzende Antwort. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie sah sich aufgrund von Personalknappheit zu einer rechtzeitigen Stellungnahme nicht in der Lage.

Das Politische Strafrecht der Bundesrepublik – ein grundsätzliches Problem

Daß letztlich eine grundsätzliche Diskussion über das Politische Strafrecht der Bundesrepublik geboten ist, macht eine Stellungnahme der Vereinigung demokratischen Juristen (VDJ) deutlich. Das hiesige Politische Strafrecht war zwar 1968 – verglichen mit der Hochzeit der KommunistInnen-Verfolgung (s. von Brünneck 1978) nach dem KPD-Verbotrelativ stark liberalisiert worden – seitdem aber sukzessive wieder verschärft. Daß dieses grundsätzlich in Frage zu stellen ist, macht – wie gesagt – eine Stellungnahme der Vereinigung demokratischen Juristen (VDJ) deutlich. Deren Sprecher erklärte auf Anfrage:

„Die VDJ lehnt eine strafrechtliche Verfolgung aufgrund von politischen Überzeugungen ab. In der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet das politische Strafrecht eine besonders düstere Tradition, die sich vom Kaiserreich über Weimar und das Dritte Reich bis in die Bundesrepublik fortsetzt. Klassenjustiz und politisches Strafrecht gehen hier lange Hand in Hand, der Klassencharakter des politischen Strafrechts darf nicht vergessen werden. Die Strafbarkeit der Verharmlosung von ‚Genoziden‘ stellt eine weitere Stellschraube dar, wie Meinungsverschiedenheiten kriminalisiert werden sollen. Es geht hier um Politik, nicht um Straftaten. Die Auschwitz-Lüge als singuläre Ausnahme entspricht dem antifaschistischen Charakter des Grundgesetzes, darüber hinaus lehnen wir dieses Instrument prinzipiell ab.“

Offiziell heißt das Politische Strafrecht der BRD heute „Friedensverrat, Hochverrat und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates“; das, was heute „Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates“ heißt, wurde 1951 – bei seiner Einführung in noch weitergehender Form als heute – offenherziger „Staatsgefährdung“ genannt.

Heutzutage findet sich in diesem Abschnitt zum Beispiel § 90a StGB, dessen Überschrift („Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole“) bereits offenlegt, daß es sich um ein Äußerungsdelikt handelt. Eine „Verunglimpfung“ ist zweifelsohne eine Äußerung – mögen verunglimpfenden Äußerungen auch politisch und moralisch verurteilt werden. Aber was ‚verunglimpfend‘ in Bezug auf den Staat oder vielmehr eine zutreffende Feststellung oder richtige Kritik ist, ist selbst Gegenstand des politischen Streits und Pluralismus – hat also in einer Demokratie dem Strafrecht entzogen zu sein.

Außerdem gibt es zum Beispiel den § 89 Strafgesetzbuch („Verfassungsfeindliche Einwirkung auf Bundeswehr und öffentliche Sicherheitsorgane“) dem anhand seiner Überschrift und seines Wortlauts nicht anzusehen ist, daß er auch Äußerungen erfaßt. Denn wird von ‚Einwirkung‘ gesprochen:

„(1) Wer auf Angehörige der Bundeswehr oder eines öffentlichen Sicherheitsorgans planmäßig einwirkt, um deren pflichtmäßige Bereitschaft zum Schutz der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder der verfassungsmäßigen Ordnung zu untergraben, und sich dadurch absichtlich für Bestrebungen gegen den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) § 86 Absatz 5 gilt entsprechend.“ (https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__89.html)

Aber auch dieser wird so ausgelegt, daß er auch verbale bzw. schriftliche ‚Einwirkungen‘, z.B. durch Flugblätter und Zeitungen, erfaßt – 1978 wurde vom Bundesverfassungsgericht eine Verurteilung des Mitgliedes der (KBW-nahen) Antimilitaristischen Gruppe Delmenhorst vom Bundesverfassungsgericht unbeanstandet gelassen (BVerfGE 47, 130143). Karl-Heinz Ladeur kritisierte damals: Bei einer solch weiten Auslegung des Ausdrucks „Einwirkung“, handele sich in denen Fällen, in denen dieser auch Meinungsäußerungen erfasse, um

„eine tautologische Paragraphisierung […], die dem Moment der Meinungsäußerung kein zusätzliches Handlungsmoment hinzufügt“.

Bestraft werden in dem Falle also – dem Staat mißfallende – politische Meinungsäußerungen über die Bundeswehr – sofern diese an SoldatInnen der Bundeswehr adressiert sind.

Und im aktuellen Fall Radio Dreyeckland sehen wir, daß die Staatanwaltschaft Karlsruhe der Auffassung ist, auch eine Äußerung – sogar eine wahre, deskriptive Äußerung – könne den Straftatbestand des § 85 StGB („Verstoß gegen ein Vereinigungsverbot“) erfüllen. (Der Sender rechnet im übrigen seinerseits – falls die staatsanwaltliche Beschwerde Erfolg haben sollte – damit, daß die Hauptverhandlung vor dem Karlsruher Landgericht – wegen der presserechtlichen Verjährung – bereits Mitte Juli stattfinden würde.

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Aktenzeichen und Datum der behandelten Entscheidung des Landgerichts Karlsruhe:

Beschluss vom 16.05.2023 zum Aktenzeichen 5 Kls 540 Js 44796/22;

Aktenzeichen für das Beschwerdeverfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart – wie gesagt –: 2 Ws 2/23.

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Literatur

Backes 1970: Otto Backes, Rechtsstaatsgefährdungsdelikte und Grundgesetz, Mohr: Heymanns: Köln, 1970 (zugl. Diss. Univ. d. Saarlandes, 1969).

Čopić 1967: Hans Čopić: Grundgesetz und politisches Strafrecht neuer Art. Mohr: Tübingen, 1967; Digitalisat des Titelblattes und des Inhaltsverzeichnisses: https://www.gbv.de/dms/spk/sbb/toc/02180916x.pdf.

Kirchheimer 1964: Kichheimer, Politische Justiz. Verwendung juristischen Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken, Luchterhand: Neuwied / Berlin, 1965; Durchgesehene, verbesserte und kommentierte Neuausgabe: EVA: Hamburg, 2020; Inhaltsverzeichnis: https://d-nb.info/1204325421/04.

von Brünneck 1978: Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1968, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1978.